Dichtung der Naturvölker

Dichtung der Naturvölker

Dichtung der Naturvölker. Die dichterischen Erzeugnisse primitiver Völker sind, so wenig ästhetische Befriedigung sie in der Regel gewähren können, nach zwei Richtungen wissenschaftlich bedeutungsvoll: man kann erstens an ihnen die Form studieren und damit vielleicht die tiefern Ursachen der Dichtungsformen überhaupt aufklären, und man kann zweitens den Inhalt der Dichtungen untersuchen und nach bestimmten Gesichtspunkten ordnen. Die Form ist in den Gesängen der Naturvölker oft wichtiger als der meist recht unbedeutende Inhalt. Manche Besonderheit der Form ist allerdings nichts weiter als Unvollkommenheit, denn allen metrischen Erzeugnissen liegen Maß und Zahl, also gewissermaßen mathematische Gesetze zu Grunde, die der primitive Dichter nur unsicher beherrscht; überdies gehört zum vollen Verständnis derartiger Dichtungsformen auch die genaueste Kenntnis der Sprache und ihrer phonetischen Eigenheiten Immerhin läßt sich feststellen, daß überall die einfache Wiederholung als Grundprinzip aller Form hervortritt; neben ihr erscheint regelmäßig schon ein gewisser Rhythmus, der aus der engen Verbindung der Dichtung mit der Musik herrührt und übrigens auch nur eine Abart der Wiederholung ist. Die Weiterbildung der Form aus der einfachen Wiederholung kann in dreierlei Weise erfolgen: entweder wird die Wiederholung beibehalten, aber durch Änderung des Ausdrucks vermannigfaltigt (Parallelismus), oder es bleiben neben dem musikalischen Rhythmus nur gewisse Reste der Wiederholung übrig (Reim, Stabreim, Assonanz), oder endlich es scheidet sich der eigentliche Inhalt als wechselnder Text von der Wiederholung, die als Kehrreim erhalten bleibt. Alle diese Möglichkeiten sind bei den Naturvölkern wenigstens in ihren Anfängen entwickelt. Der Inhalt der primitiven Dichtungen ist schon derart differenziert, daß man die Hauptgattungen der Dichtkunst in ihnen recht kenntlich vertreten findet. Am stärksten vertreten ist die Gefühlsdichtung, die Lyrik; bei den Naturvölkern treten die erotischen Gesänge stark zurück gegen andre, besonders Kriegs-, Trauer- und Tanzlieder. Die Zauberlieder bilden eine besondere Gruppe, auch Spottlieder fehlen nicht. Das Epos, in der Regel aus endlosen Rezitationen mit gelegentlichem Einfallen des Chors bestehend, hat meist eine weniger entwickelte Form als die lyrischen Gesänge. Erst wenn die Form als Gedächtnishilfe auftritt, nimmt sie einen straffern Charakter an. Alle primitive Dichtung ist eng mit der Musik verbunden. Wie Karl Bücher nachgewiesen hat, dienten rhythmische Gesänge oft dazu, die regelmäßige Arbeit erträglich zu machen und dadurch den Menschen gewissermaßen an die Arbeit zu gewöhnen. Da indessen die Dichtung auch in andern Zuständen, wie Trauer, Liebe, Krieg etc., eine Erhöhung der Stimmung und eine Erleichterung des Daseins bewirkt, ist wohl kaum richtig, die Dichtung als eine Art Geschwisterkind der rhythmischen Arbeitstätigkeit zu betrachten. Die Anfänge der Dichtung sind älter als die der regelmäßigen Arbeit. Vgl. Große, Die Anfänge der Kunst (Freib. 1894); Bücher, Arbeit und Rhythmus (2. Aufl., Leipz. 1899); Joest, Malaiische Lieder und Tänze (im »Internationalen Archiv für Ethnographie«, Bd. 5); Boas, Eskimo tales and songs (Washington 1888); Meinhof, Afrikanische Poesien (im »Globus«, Bd. 62); Schurtz, Urgeschichte der Kultur (Leipz. 1900); Patkanow, Die Irtysch-Ostjaken und ihre Volkspoesie (Petersb. 1900).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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