Gesichtstäuschungen

Gesichtstäuschungen

Gesichtstäuschungen (Augentäuschungen, Okularspektra), durch den Sehapparat vermittelte Wahrnehmungen, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Subjektive G. werden ausschließlich durch subjektive Reize angeregt und gewinnen scheinbar objektive Gestalt, während die objektiven durch einen äußern Sinnesreiz eingeleitet werden, der aber zu Empfindungen und Vorstellungen führt, die dem Reiz nicht entsprechen. Bei den subjektiven G. kann das Auge oder der zum Sehorgan in Beziehung stehende Teil des Gehirns den Reiz empfangen. Es entsteht eine Lichtempfindung in vollkommener Finsternis, wenn auf den Sehapparat mechanische oder elektrische Reize einwirken. Am bekanntesten ist das blitzähnliche Leuchten bei einem Schlag oder Stoß auf das Auge. Bei schneller Bewegung des Auges im Finstern glaubt man bisweilen eine Lichterscheinung wahrzunehmen, die so genau der Wirklichkeit entspricht, daß der geübteste Beobachter über ihre wahre Natur im Zweifel bleibt. Hierher gehören auch die Druckbilder (Druckfiguren, Phosphene), die beim Drücken begrenzter Stellen des Augapfels erscheinen und dem Ort im Raume der dadurch gereizten Netzhautstelle entspricht. Aber auch ohne jegliche äußere Reizung ist das dunkle Gesichtsfeld bei geschlossenen Augen niemals ganz frei von Licht- und Farbenbildern (Eigenlicht der Netzhaut, Goethes »wallende Nebelstreifen«). Diese werden auch wahrgenommen, wenn die Netzhaut im Auge für Licht völlig unempfindlich geworden ist, und gestalten sich unter Umständen zu einem quälenden Leiden (Photopsie). Sie sind durch den Druck des Blutes auf die Nerven zu erklären und treten besonders bei Blutandrang nach dem Kopf auf. Kommen zu solchen G. abnorme Erregungszustände des Gehirns, so können sie sich zu Halluzinationen, Illusionen und Visionen gestalten. Einen Übergang zu den objektiven G. bilden die entoptischen Erscheinungen, bei denen im optischen Apparat des Auges vorhandene Gegenstände oder Veränderungen zu falschen Wahrnehmungen führen. Dahin gehören die fliegenden Mücken (Fleckensehen, Mückensehen, mouches volantes), die Verzerrungen von Gegenständen durch abnorme Gestaltung der Krümmungsflächen der brechenden Medien (Metamorphopsie), die falsche Beurteilung der Größe gesehener Gegenstände infolge plötzlich eintretender Veränderungen in der Akkommodationskraft des Auges oder in der Leistungsfähigkeit der Muskeln, welche die Konvergenzstellung der Augen bewirken (Makropsie, Mikropsie), ferner die scheinbare Bewegung von Objekten infolge einer außerhalb des Bewußtseins sich vollziehenden Augenbewegung. Neben diesen G., die größtenteils auf Erkrankungen oder ungewöhnliche Reizungen des Gesichtssinnes zurückzuführen sind, gibt es andre, die aus der normalen Beschaffenheit des Organs entspringen. So täuscht uns der Augenschein andre Verhältnisse vor, als in Wirklichkeit vorhanden sind; entfernte und große Gegenstände halten wir oft für klein und nahe; über die räumlichen Verhältnisse des Gesehenen belehrt uns überhaupt nur die Erfahrung, wie das Kind beweist, das nach dem Mond greift, und das Verhalten des Blindgebornen nach glücklicher Operation im spätern Alter. Derartigen Täuschungen unterliegt jeder, sobald die Verhältnisse einigermaßen ungewöhnlich werden. Ferne Gegenstände, z. B. Berge, erscheinen näher oder ferner je nach dem Zustand der Atmosphäre. Hierher gehört auch die Tatsache, daß der Mond am Horizont größer erscheint, als wenn er hoch am Himmel steht. Sehr schwer entreißt man sich den Täuschungen über Ruhe und Bewegung äußerer Gegenstände, die jedesmal eintreten, sobald man über die eigne Ruhe oder Bewegung einen nicht hinreichend starken Eindruck erhält. Derartige Täuschungen erlebt man besonders auf der Eisenbahn und auf dem Wasser, namentlich aber sind wir gar nicht imstande, uns von der Täuschung loszumachen, daß die Gestirne sich um die ruhende Erde drehen. Spiegel, Fernrohre, Lupen, Mikroskope täuschen uns über den Ort und die wahre Größe der gesehenen Objekte. Ferner gehören zu den G. die Erscheinung der Irradiation, die einen weißen Gegenstand gröster erscheinen läßt als einen schwarzen von gleicher Größe, und die Folgen der Nachdauer einer Reizung der Sehnerven. So gibt eine geschwungene glühende Kohle das Bild eines feurigen Kreises, und im Kinematograph setzen sich viele schnell hintereinander gesehene einzelne Bilder zu der Darstellung einer einzigen kontinuierlichen Bewegung zusammen. Zu der Nachwirkung gehören auch die Nachbilder, die in gleicher oder komplementärer Farbe erscheinen, und endlich sind die Kontrasterscheinungen zu erwähnen, die bei gleichzeitiger Einwirkung zweier verschiedener Farben auf die Netzhaut entstehen: ein graues Papierstückchen auf rotem Grund erscheint grünlich. Über andre G. s. Pseudoskopische Erscheinungen. Vgl. Gesicht, besonders S. 728 u. 731.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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