Nordische Mythologie

Nordische Mythologie

Nordische Mythologie, die Lehre von dem Glauben und Kultus der germanischen Bewohner Skandinaviens, der ursprünglich dem der südgermanischen Völker gleich war, im Norden aber, der erst mehrere Jahrhunderte später christianisiert wurde, reicher ausgestaltet und systematisiert ist. An der Spitze des nordischen Götterstaates der Asen (s. d.) steht Odin (Wodan), dessen Kultus jedoch erst verhältnismäßig spät aus dem Süden eindrang, nebst seinen Brüdern Wili und We, während der altgermanische Himmelsgott Tyr (Ziu) nur noch als Kriegsgott verehrt ward und der Gewittergott Thor (Donar), der ehemals (wenigstens in Norwegen) die höchste Stelle einnahm, ebenfalls an Ansehen einbüßte; beide sind in dem ausgebildeten System der nordischen Mythologie zu Söhnen Odins geworden. Von den übrigen südgermanischen Göttern finden wir im Norden wieder: Baldr, der hier ebenfalls als Odins Sohn erscheint und, mit ethischen Zügen ausgestattet, zu dem Gotte der Reinheit und Unschuld gemacht worden ist; Frigg (die südgermanische Frija), auch im Norden Odins Gemahlin; Fulla (im Süden aus dem Merseburger Spruche bekannt), hier Friggs Kammermädchen; Forseti, der Gott der Gerechtigkeit (dessen Kultus auch auf Helgoland bezeugt ist); Hlodyn, die dea Hludana römischer Inschriften; endlich zwar nicht eine weibliche Nerthus (s. d.), wohl aber einen männlichen Njord, den Gott des sommerlichen Meeres und Spender des Reichtums und der Fruchtbarkeit, nebst seinem Sohne Freyr (Fro), dem man im Norden noch eine Schwester (Freyja) an die Seite stellte; diese letzten drei gehören jedoch nach der nordischen Überlieferung nicht zum Asengeschlecht, sondern werden als Wanen bezeichnet, deren Kultus wahrscheinlich von ingwäischen Stämmen im südlichen Skandinavien ausging und dann nach dem Norden sich verbreitete: die Schwierigkeiten, die der Einführung dieser jüngern Götter begegneten, leben in dem Mythus vom Wanenkriege fort. – Durch südgermanische Quellen nicht bezeugt und zum Teil wohl nordische Neuschöpfungen sind: Heimdall, der Wächter der Himmelsbrücke; der schweigsame, starke Widar; der blinde Kriegsgott Hod; Bragi, der Gott der Dichtkunst; Hönir, der sich mit Odin an der Erschaffung der ersten Menschen beteiligte; Thors Söhne, Modi und Magni, und sein Stiefsohn, der winterliche Ull; Idun, Bragis Gemahlin, die Göttin der Unsterblichkeit; Nanna, die Gattin Baldrs; Sif, die Gattin Thors; Saga, Gefion u.a.

Der Glaube an dämonische und seelische Geister war im Norden ebenfalls weit verbreitet. Zu den Dämonen gehören die Riesen (jotnar, thursar) und die Zwerge (dvergar); zu den seelischen Geistern die Elbe (álfar), die Fylgien (fylgjur, hamingjur; die Schutzgeister der Menschen, die sich besonders gern in Tiergestalt zeigen), die Einherier und Walküren (Schwanjungfrauen) u.a. Die Grenze zwischen Göttern und Dämonen ist übrigens eine schwankende, da selbst der höchste Gott, Odin, riesischen Ursprungs ist. Dämonischen Charakter haben auch Loki, der Gott des Feuers und der Vernichtung, nebst seinen drei furchtbaren Kindern, dem Wolf Fenrir, der Midgardsschlange und der Todesgöttin Hel, zu der nach dem ursprünglichen Glauben alle Menschen (und auch die als sterblich gedachten Götter, wie Baldr) gelangten, bis die Phantasie der Wikingerzeit die Vorstellung von dem Kriegerparadiese Walholl schuf, das den im Kampfe gefallenen Helden (den Einheriern) vorbehalten war, während die dem Alter oder der Krankheit erliegenden zu Hel hinab mußten; ferner auch der Meerbeherrscher Ägir und seine Gattin Ran, der weise Wassergeist Mimir, der Beherrscher der Feuerwelt Surt u.a.

Die n. M. kennt auch eine ausgebildete Kosmogonie und Eschatologie. Im Anfange der Zeit war weder Himmel noch Erde, sondern nur öder, unerfüllter Raum, eine Art Chaos (Ginnungagap). Am Nordende desselben bildete sich dann Niflheim, das Reich des Nebels und der Kälte, am Südende Muspelheim, die Welt des Feuers und des Lichtes. In Niflheim war ein Brunnen (Hwergelmir), aus dem sich zwölf Ströme ergossen. Je mehr sich diese von ihrer Quelle entfernten, um so mehr erstarrte ihr Wasser, und es entstanden Reif und Eis, welche die Nordhälfte Ginnungagaps erfüllten. Angeweht aber von der warmen Luft des Südens, begann das Eis zu schmelzen, und es entstand durch Zusammenwirken von Hitze und Kälte ein Menschengebilde, der urweltliche Riese Ymir, von dem das Geschlecht der Hrimthursen oder Reifriesen ausging. Ebenso entstand aus dem Eise die Kuh Audhumla, von deren Milch Ymir sich nährte. Diese Kuh beleckte die Eisblöcke, die salzig waren; da kamen am Abend des ersten Tages Menschenhaare hervor, den andern Tag eines Mannes Haupt, den dritten Tag ward es ein ganzer Mann, der hieß Buri. Dessen Sohn Bur gewann von der Tochter des Riesen Bolthorn drei Söhne: Odin, Wili und We. Diese erschlugen den Riesen Ymir und schufen aus ihm die Welt: aus dem Blute die See, aus den Knochen die Berge, aus den Zähnen die Steine, aus dem Schädel den Himmel, aus dem Haar die Bäume, aus dem Gehirn die Wolken. Von Muspelheim herübergeflogene Feuerfunken aber setzen die Asen als Himmelslichter (Sonne, Mond und Sterne) an das Firmament. Rund war die Erde und von einem tiefen Meer umgeben, dessen Strand (Jotunheim) die Riesen bewohnen sollten, und um sie gegen diese zu schützen, wurde aus den Augenbrauen Ymirs die Burg Midgard (»Mittelfeste«) erbaut. Am Strande fanden die Asen zwei Bäume, aus denen sie die zwei ersten Menschen erschufen, Ask (Esche) und Embla (Ulme?); als Wohnsitz ward ihnen Midgard angewiesen. Die Asen ordneten weiter die Welt und setzten an den Himmel die Lenker von Sonne und Mond, die auf Wagen fahren, von riesenhaften Wölfen verfolgt, die sie zu verschlingen drohen (Sonnen- und Mondfinsternisse). Ebenso werden Nacht (Nott) und Tag (Dag) als göttliche Wesen an den Himmel versetzt, um auf schnellen Rossen täglich die Erde zu umreiten. Zu ihrer eignen Wohnung erbauten die Asen im Himmel Asgard (s. d.), mit der Erde durch die Brücke Bifrost (s. d.) verbunden. Über den Untergang der Welt (die die alten Skandinavier sich auch unter dem Bild eines Riesenbaumes, der Esche Yggdrasill [s. d.], vorstellten) und der Götter vgl. Götterdämmerung.

Die wichtigsten Quellen der nordischen Mythologie sind die beiden Edden (s. Edda); außerdem finden sich zahlreiche Aufschlüsse in den isländischen Sagas, bei Saxo Grammaticus, in Rimberts »Vita Anscarii« etc. Vgl. Mone, Geschichte des Heidentums im nördlichen Europa (Leipz. u. Darmst. 1822–23, 2 Bde.); Finn Magnusen, Eddalæren og dens oprindelse (Kopenhagen 1824–26, 4 Bde.) und Priscae veterum borealium mythologiae lexicon (das. 1828); Köppen, Literarische Einleitung in die n. M. (Berl. 1837); P. A. Munch, Normændenes gudelære i hedenold (Christiania 1847); R. Keyser, Normændenes religionsforfatning i hedendommen (das. 1847); N. M. Petersen, Nordisk mythologi (Kopenh. 1842, 2. Aufl. 1863); K. Maurer, Die Bekehrung des norwegischen Stammes zum Christentum (Münch. 1855–56, 2 Bde.); H. Petersen, Om Nordbörnes gudedyrkelse og gudetro i hedenold (Kopenh. 1876); Rydberg, Undersökningar i germanisk mythologi (Stockh. 1886–90, 2 Bde.); S. Bugge, Studien über die Entstehung der nordischen Götter- und Heldensagen (deutsch von O. Brenner, Münch. 1889); Paul Herrmann, Nordische Mythologie (Leipz. 1903), sowie den Artikel »Deutsche Mythologie«.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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