Neukantianismus

Neukantianismus

Neukantianismus. Nachdem zu Anfang des 19. Jahrh. der eigentliche Kritizismus Kants durch die großen idealistischen Systeme von Fichte, Schelling, Hegel sowie durch das realistische Herbarts verdrängt worden war, machte sich seit der Mitte der 1860er Jahre in Deutschland eine philosophische Bewegung geltend, die zu den Hauptgedanken der Kantischen Kritik zurückführte, zunächst die erkenntnistheoretischen Probleme in den Vordergrund stellte und dabei die spekulative Philosophie mit ihrer Metaphysik verwarf. Man pflegt diese ganze Richtung N. zu nennen, soweit auch ihre einzelnen Vertreter in der Auffassung Kants selbst sowie in der selbständigen Weiterentwickelung Kantischer Gedanken auseinander gehen. Es sind hier besonders zu nennen: O. Liebmann (s. d.), der in seiner Schrift »Kant und die Epigonen« (Stuttg. 1865) energisch aufforderte, zu Kant zurückzukehren; Friedr. Alb. Lange (s. d. 6), der in seiner vielgelesenen »Geschichte des Materialismus« (Iserlohn 1866, 7. Aufl. 1902) alle Erkenntnis auf die Erfahrung beschränkt, aber den moralischen Wert der Ideen anerkennt, obgleich ihnen eine wissenschaftliche Wahrheit nicht zukommen soll; Fritz Schultze (s. d.), der durch den Kritizismus Wissenschaft, Ethik und Religion versöhnen will; Hermann Cohen, der in seinen Schriften: »Kants Theorie der Erfahrung« (Berl. 1871, 2. Aufl. 1885), »Kants Begründung der Ethik« (das. 1877), »System der Philosophie« (Bd. 1: »Logik des reinen Erkennens«, das. 1902; Bd. 2: »Ethik des reinen Willens«, das. 1904) u.a., die Einzelseele selbst als bloße Erscheinung ansieht, hinter ihr aber ein »reines Bewußtsein« annimmt, dessen Funktionen Raum, Zeit und die Kategorien sind; ferner Paul Natorp (s. d. 2), Karl Vorländer (s. d.), Franz Staudinger, Kurd Laßwitz (s. d.), A. Stadler, Albrecht Krause. In Beziehung zu dieser neuen Erweckung Kants stehen auch die deutschen Positivisten E. La as (s. d.) und A. Riehl (s. d. 2) sowie der Theolog Albr. Ritschl (s. d. 2) mit seinen Anhängern, die jegliche Metaphysik aus der Religion verbannen und die Religion vornehmlich auf das Sittengesetz gründen wollen. Auch bedeutende Naturforscher neuerer Zeit, wie Helmholtz und Zöllner, standen der Kantischen Erkenntnistheorie nahe. Wesentliche Forderung hat diese ganze neukantische Richtung durch die streng philologische Behandlung erhalten, die in Ausgaben und Erklärungen den Schriften Kants namentlich durch Benno Erdmann (s. d. 6), Vaihinger (s. d.) und K. Kehrbach zuteil geworden ist.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

Игры ⚽ Нужно решить контрольную?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Neukantianismus — ist die vor allem von Otto Liebmann und Friedrich Albert Lange eingeleitete philosophische Bewegung, welche sich unter Berufung auf die transzendentale Logik und erkenntnistheoretische Schriften Immanuel Kants gegen den Materialismus wendet.[1]… …   Deutsch Wikipedia

  • Neukantianismus — Neu|kan|ti|a|nịs|mus 〈m.; ; unz.; Philos.〉 Erneuerung der Philosophie Kants Ende des 19. Jh. * * * Neu|kan|ti|a|nis|mus, der; : (in der 2. Hälfte des 19. u. am Anfang des 20. Jh.s.) an Kant anknüpfende, gegen den Materialismus gerichtete… …   Universal-Lexikon

  • Neukantianismus — Neu|kan|ti|a|nis|mus (philosophische Schule) …   Die deutsche Rechtschreibung

  • Neokantianismus — Neukantianismus ist der Name einer von verschiedenen akademischen Zentren in Deutschland ausgehenden philosophischen Strömung, die sich nach dem Abebben des Idealismus als Gegenbewegung zu dem sich immer mehr ausbreitenden, stark in den… …   Deutsch Wikipedia

  • Philosophie des 19. Jahrhunderts — Die Philosophie des 19. Jahrhunderts reicht von der Romantik und dem Idealismus als einen der Höhepunkte der deutschen Philosophie über die vor allem in Frankreich und England starke Gegenbewegung des Positivismus, den Materialismus von Marx und… …   Deutsch Wikipedia

  • Hönigswald — Richard Hönigswald (* 18. Juli 1875 in Magyaróvár; † 11. Juni 1947 in New Haven (Connecticut)) war ein bekannter Philosoph, der dem weiteren Kreis des Neukantianismus zuzurechnen ist. Inhaltsverzeichnis 1 Kurzbiographie 2 Leben 3 …   Deutsch Wikipedia

  • Bruno Bauch — (* 19. Januar 1877 in Groß Nossen, Landkreis Münsterberg (Schlesien); † 27. Februar 1942 in Jena) war ein deutscher Philosoph. Er war ein Vertreter der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus. Bauch wurde durch seine Lehrer Heinrich Rickert,… …   Deutsch Wikipedia

  • Paul Natorp — Paul Gerhard Natorp (* 24. Januar 1854 in Düsseldorf; † 17. August 1924 in Marburg) war ein deutscher Philosoph und Pädagoge, der als Mitbegründer der Marburger Schule des Neukantianismus bekannt ist …   Deutsch Wikipedia

  • Ernst Cassirer — Foto von Cassirer Ernst Cassirer (* 28. Juli 1874 in Breslau; † …   Deutsch Wikipedia

  • Hermann Cohen — (Lithographie von Karl Doerbecker) Hermann Cohen (* 4. Juli 1842 in Coswig; † 4. April 1918 in Berlin) war ein deutscher Philosoph. Er war – gemeinsam mit Paul Natorp – Schulhaupt des Marburger Neukantianismus, gilt aber zugleich auch als einer… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”