Lungenseuche

Lungenseuche

Lungenseuche, eine dem Rind eigentümliche ansteckende kruppöse Lungen-Brustfellentzündung, die am Ende des 17. Jahrh. zuerst auftrat, im 18. Aufsehen erregte und sich dann infolge des gesteigerten Viehverkehrs allgemein verbreitete. Sie hat im 19. Jahrh. sehr große Verluste bedingt, ist seit zehn Jahren jedoch durch zweckmäßige veterinärpolizeiliche Maßnahmen sehr eingeschränkt und in England, Holland, Belgien, Österreich (nicht Ungarn), neuerdings auch in Deutschland so gut wie ganz ausgerottet. Daß die L. eine echte kontagiöse Krankheit sei, hatte man schon 1860 erwiesen, aber erst 1899 fanden Nocard und Roux eine Methode, den Krankheitserreger zu kultivieren, indem sie Serum aus kranken Lungen in seinen Kollodiumsäckchen lebenden Kaninchen in die Bauchhöhle einnähten. Von den Körpersäften des seinerseits nicht erkrankenden Kaninchens ernährt, wächst in dem Inhalt jener Säckchen eine Reinkultur des Lungenseuche-Kontagiums, das sich nur bei 2000facher Vergrößerung in Form glänzender Pünktchen erkennen und auch erfolgreich auf Rinder überimpfen läßt. Unter natürlichen Verhältnissen entsteht die L. nur durch Übertragung vom kranken Tier auf gesunde, teils direkt, teils durch Zwischenträger. Der Ansteckungsstoff findet sich in der Ausatmungsluft und wird namentlich durch die Luft, selbst auf einige Entfernung, übertragen, kann sich auch an infizierten Plätzen monatelang wirksam erhalten. Die Ausbreitung, welche die L. in einem Bestand erlangt, ist sehr ungleich; oft erkranken wenige Tiere in längern Zwischenzeiten, oft binnen kurzem 80 Proz. Genesene Tiere sind in der Regel gegen fernere Ansteckung geschützt, können übrigens unmerklich alte abgekapselte Krankheitsherde (Sequester) in der Lunge haben und dann ihrerseits gesunde Rinder anstecken. Seit die Tierseuchenbekämpfung gesetzlich geregelt ist, werden überall die an L. erkrankten oder dessen verdächtige Rinder getötet. In Österreich (auch England und Holland) werden, was noch wirksamer ist, nach Ausbruch der L. in einem Stalle sämtliche Insassen, ob gesund oder krank, geschlachtet. Da das Fleisch verwertet wird, sind die Kosten des Verfahrens nicht allzu erheblich. Die Krankheitserscheinungen beginnen etwa vier Wochen nach der Ansteckung, entwickeln sich langsam und sind wenig auffällig; doch ist in diesem ersten Stadium bereits Fieber nachweisbar (Temperatur bis 40°). Die Krankheit kann so verlaufen und in Genesung übergehen, ohne daß sie offenkundig wird (»heimliches Durchseuchen«). In den meisten Fällen schließt sich aber dem ersten, oft mehrere Wochen dauernden Stadium ein zweites an, das neben hohem Fieber, Appetitlosigkeit und Mattigkeit vor allem deutliche Symptome der örtlichen Erkrankung der Lungen: Husten (schmerzhaft, kurz abgebrochen), Atembeschleunigung und -Beschwerde, Nüsternspiel, auch wohl Stöhnen (bei schwerer Brustfellentzündung) bewirkt. Die tierärztliche Untersuchung ergibt ausgebreitete Verdichtung und Luftleere der Lunge. Bisweilen erzeugt die L. sogleich schwere Symptome und kann auch schon 14 Tage nach der Ansteckung ausbrechen. Vor Einführung der Zwangstötung belief sich die Zahl der Todesfälle auf etwa 40–50 Proz. der Erkrankten. Die krankhaften Veränderungen in den Lungen sind sehr charakteristisch. Die frisch erkrankten Lungenläppchen sind dunkel kirschrot, das zwischen ihnen befindliche Bindegewebe bildet 4–8 mm breite weißliche, mit Flüssigkeit angefüllte Streifen, so daß die Lunge wie marmoriert aussieht; ältere Krankheitsherde sehen blasser aus. Als die L. noch stark verbreitet und die veterinärpolizeiliche Bekämpfung noch nicht allgemein wirksam geworden war, suchte man die Rinderbestände durch eine Lungenseuche-Impfung vor Ansteckung zu schützen. Dieselbe wurde 1851 von dem holländischen Tierarzt Willems in Hasselt erfunden. Der wirksame Impfstoff (Lymphe) wird erhalten in der Flüssigkeit, die aus frisch erkrankten Lungenteilen der wegen L. geschlachteten Rinder abtropft, ist im erkalteten Zustand möglichst sofort zu verwenden und auch bei geeignetem Konservierungsverfahren höchstens drei Wochen haltbar. Hiernach war die Schwierigkeit, geeigneten Impfstoff bereit zu halten, ein Haupthindernis der allgemeinen Anwendung der Impfung geworden. Von geimpften Tieren wieder brauchbare Lymphe zu gewinnen, ist nicht gelungen. Bei der Impfung wurden 0,5–1 g Lymphe unter die Haut in der Nähe der Schwanzspitze übertragen, wo eine eigenartige Impfentzündung entstand, die übrigens oft Absterben eines Schwanzteils und sogar schlimmere Komplikationen im Gefolge hatte. Anderseits blieb bei 15–20 Proz. der Impflinge die Impfreaktion aus und die Impfung mußte wiederholt werden. Die gelungene Impfung schützte jedoch mehrere Jahre gegen die L. In Deutschland wurde sie bis in die neueste Zeit namentlich in der Provinz Sachsen, wo die L. ihren Hauptherd hatte, ausgeführt (auf Grund einer gesetzlichen Befugnis). Gegenwärtig hat die Impfung jede Bedeutung verloren angesichts der Möglichkeit, die L. mit veterinärpolizeilichen Maßregeln (s. auch Veterinärpolizei) auszurotten. In Deutschland sind durch das Reichsgesetz zur Abwehr und Unterdrückung der Viehseuchen vom 23. Juni 1880 im wesentlichen folgende Maßregeln angeordnet: Verpflichtung zur Anzeige verdächtiger Erkrankung, Untersuchung durch den beamteten Tierarzt. Nach Feststellung der L. durch jenen Gehöftsperre für alle auf dem Gehöft befindlichen Rinder; alle offensichtlich kranken werden geschlachtet (zur Entschädigung der Verluste besteht eine Art Zwangsversicherung in Provinzial- etc. Verbänden), alle seuchenverdächtigen (d.h. mit verdächtigen Erscheinungen behafteten) werden abgesondert und stehen unter Stallsperre. Alle übrigen anscheinend noch gesunden Rinder gelten als ansteckungsverdächtig. Sie dürfen das Gehöft nur mit polizeilicher Erlaubnis und unter besondern Vorsichtsmaßregeln verlassen und zwar entweder zur Abschlachtung oder zur Feldarbeit, wenn jede Ansteckung fremder Rinder ausgeschlossen werden kann. Die Gehöftsperre wird erst aufgehoben, wenn 6 Monate nach der letzten Erkrankung verflossen sind, oder sobald der Besitzer den ganzen Bestand seinerseits hat abschlachten lassen, was er oft den großen Nachteilen der langen Sperre vorzieht. Da die alsbaldige Abschlachtung auch jede Weiterverbreitung der L. am besten verhütet, so sollte sie gesetzlich vorgeschrieben und auf öffentliche Kosten ausgeführt werden. In Deutschland belief sich die Zahl der wegen L. getöteten Rinder in den 14 Jahren 1886–99 auf 27,141 oder jährlich im Durchschnitt 1938. Die dafür durch Zwangsversicherung aufzubringende Entschädigungssumme betrug 4,25 Mill. 1899 mußten noch 2030 Rinder getötet werden. Seitdem ist die Unterdrückung in dem ständigen Seuchengebiet der Provinz Sachsen und der angrenzenden Landesteile gelungen. Im Jahre 1900 betrug die Zahl der getöteten Rinder noch 1298, 1901 nur 998. In den Jahren 1902 und 1903 ist die L. nur noch in einzelnen Gehöften aufgetreten. Die sogen. schwarze L. in Deutsch-Südwestafrika soll eine schwere Form der L., nach andern jedoch eine besondere Krankheit (s. Heartwater) sein.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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