Locke

Locke

Locke (spr. lock), John, berühmter engl. Philosoph, geb. 29. Aug. 1632 in Wrington bei Bristol, gest. 28. Okt. 1704 zu Oates in Essexshire, studierte seit 1651 in Oxford Medizin, klassische Literatur und Cartesianische Philosophie, übte Einfluß auf die Erziehung des nachmaligen philosophischen Schriftstellers Shaftesbury (s. d.), fiel mit dessen Großvater, seinem Gönner, dem Großkanzler Grafen Shaftesbury, bei Karl II. in Ungnade, folgte dem Grafen nach Holland, wo er sich mehrere Jahre aufhielt, kehrte aber nach der Entthronung Jakobs II. nach England zurück. Durch sein philosophisches Werk: »Essay concerning human understanding« (Lond. 1690; mit Kommentar hrsg. von Fraser, 1894; deutsch von v. Kirchmann, 2. Aufl., Leipz. 1901), gegen dos Leibniz seine »Nouveaux essais sur l'entendement humain« verfaßte, ist er der Gründer des psychologischen Empirismus und durch den in demselben enthaltenen Versuch einer Erkenntnistheorie der Vorläufer Kants, durch seine (freisinnigen) zwei Abhandlungen über die bürgerliche Regierung der Wortführer des politischen Liberalismus sowie durch seine Schrift über die Vernunftmäßigkeit des Christentums jener der religiösen Toleranz und endlich durch seine »Some thoughts concerning education« (Lond. 1693; deutsch von Sallwürk, 2. Aufl., Langens. 1897) der Vater der Rousseauschen und dadurch aller neuern Pädagogik geworden. In seinem »Essay« gibt er eine »Untersuchung über den Ursprung, über die Gewißheit und den Umfang der menschlichen Erkenntnis, über die Gründe und Grade des Glaubens, der Meinung und des Beifalls«. Zuerst bekämpfte er die scholastische und Cartesianische Annahme, daß dem menschlichen Geist gewisse Grundsätze und Begriffe eingeboren sein sollen (ideae innatae). Dagegen hebt L. hervor, daß alle unsre Vorstellungen, mithin die Materialien unsers Denkens, aus der Erfahrung stammen, die als Sensation die äußern sinnenfälligen Objekte, also die körperlichen Gegenstände und die leiblichen Zustände, als Reflexion die innern Tätigkeiten und Zustände unsers Geistes erfasse, indem er hinsichtlich der Reflexion oder Selbstwahrnehmung bemerkt, daß ihr zwar nicht, wie der Sensation, ein Sinn zugrunde liege, daß sie aber gleichwohl viel Ähnlichkeit mit der Sinneswahrnehmung habe und daher als innerer Sinn bezeichnet werden könne. Die Vorstellungen sind nach L. entweder einfache oder zusammengesetzte; jene sind keiner Erklärung bedürftig und fähig, die Entstehung der letztern führt L. auf Denken und Wollen zurück. Die einfachen Vorstellungen kommen teils durch einen Sinn (z. B. Hitze, Kälte, Farben), teils durch mehrere Sinne (z. B. Gestalt, Bewegung), teils durch Reflexion allein (z. B. Vorstellen, Wollen), teils durch Sensation und Reflexion zugleich (z. B. Luft, Schmerz, Existenz) in unsre Seele. Die sinnlichen Vorstellungen sind großenteils dem wirklich außer uns Existierenden nicht ähnlich oder gleich. Allerdings gibt es ursprüngliche, erste oder reale Eigenschaften (original oder primary qualities), die als unzertrennlich von den Körpern in jedem wahrnehmbaren Teil der Materie gefunden werden, wie Ausdehnung, Größe, Zusammensetzung, Dichtheit, Gestalt, Zahl, Lage, Bewegung und Ruhe, aber zugleich wirken die Körper vermittelst der Größe, Gestalt, Verbindung, Bewegung ihrer kleinsten, für sich nicht wahrnehmbaren Teile auf unsre Sinne in der Art, daß sie Vorstellungen von Gerüchen, Farben, Tönen etc. in uns hervorbringen, die nur in der Seele sind und nicht in den Körpern, die also ohne die Seele nicht da sein würden. Das sind die sekundären (secondary qualities) oder sinnlichen Eigenschaften. Außer diesen beiden nimmt L. noch eine dritte Art von Eigenschaften der Körper an, nämlich die Kräfte, die sich darin äußern, daß ein Körper auf Grund der besondern Beschaffenheit seiner Eigenschaften in denen eines andern Körpers solche Veränderungen hervorzubringen vermag, daß dieser unsre Sinne anders anregt als vorher. Bei der Aufnahme der einfachen Vorstellungen verhält das Erkenntnisvermögen sich leidend und vermag keine derselben willkürlich in sich zu erzeugen; bei der Bildung der zusammengesetzten, ebenso bei Vergleichung und Abstraktion ist sie dagegen selbsttätig, verfährt dabei sogar willkürlich, indem sie die einfachen Vorstellungen verarbeitet. Die zusammengesetzten Vorstellungen lassen sich in drei Klassen ordnen, in Modi, d.h. Zustände, Beschaffenheiten an einem andern, Relationen, durch Vergleichung eines Dinges mit einem andern entstehend, Substanzen, die wir annehmen als den Eigenschaften zugrunde liegend, als Substrate, von denen wir keinen klaren Begriff haben; doch ist die Existenz körperlicher sowie geistiger Substanzen nicht zu leugnen. Das Erkennen definiert L. als die Wahrnehmung teils der Übereinstimmung und der Verbindung, teils der Getrenntheit und des Widerstreits zwischen unsern Vorstellungen. Nach den Abstufungen der Zuverlässigkeit der Erkenntnis gibt es drei Arten: die anschauliche oder intuitive, bei der wir die Übereinstimmung oder die Unvereinbarkeit gegebener Vorstellungen unmittelbar durch ihren Inhalt ohne Dazwischenkunft einer andern Vorstellung einzusehen vermögen; die durch den Schluß vermittelte oder demonstrative, wobei wir der Vermittelung andrer Vorstellungen bedürfen; die sinnliche, welche die Existenz endlicher Wesen außer uns zum Gegenstand hat, der man aber den Namen einer Erkenntnis nur deshalb beilegt, weil sie mehr als bloße Wahrscheinlichkeit bietet, ohne die ebengenannten beiden Stufen der Zuverlässigkeit zu erreichen. Auf den Zweifel, ob unsern Vorstellungen die Existenz realer Dinge wirklich entspreche, läßt sich nur erwidern, daß wir die Beziehung gewisser Gegenstände, deren Dasein wir entweder mit den Sinnen wahrnehmen oder wahrzunehmen glauben, auf uns unleugbar bemerken, vornehmlich indem wir erfahren, daß sie für uns entweder von Vergnügen oder von Schmerz begleitet werden, daß aber unser Erkennen sich keineswegs über die gesamte Wirklichkeit der Dinge, ja nicht einmal über den Umfang unsrer eignen Wahrnehmungen erstreckt. Namentlich ist hinsichtlich des Verbundenseins der Vorstellungen unsre Erkenntnis sehr beschränkt. So sind uns die Grundursachen der sinnlichen Eigenschaften der Körper wie auch die Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen den ursprünglichen und den abgeleiteten Beschaffenheiten unbekannt. Noch weit mehr sind die geistigen Substanzen unsrer Erkenntnis entzogen, denn wir erlangen von ihnen auf natürlichem Wege keine andern Vorstellungen als diejenigen, die wir durch Reflexion gewinnen. Von unserm eignen Dasein besitzen wir eine intuitive, von Gottes Dasein eine demonstrative, von dem Dasein aller übrigen Dinge eine sinnliche Erkenntnis, welch letztere aber nicht über den Wahrnehmungskreis der Sinne hinausreicht. Da alle menschliche Erkenntnis die Gegenstände nicht unmittelbar, sondern nur unter der Vermittelung von Vorstellungen erfaßt, so kommt ihr auch bloß insoweit Realität zu, als Übereinstimmung zwischen unsern Vorstellungen und der Wirklichkeit der Dinge stattfindet. Letztere dürfen wir mit Gewißheit annehmen, weil die einfachen Vorstellungen notwendig das Produkt von Dingen sind, die eine natürliche Einwirkung auf unsre Seele ausüben. Die Wahrheit in der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes ist eine Verbindung und Trennung von Zeichen, die dem gegenseitigen Verhältnis der bezeichneten Dinge gemäß erfolgt. Da nun das Urteilen in dem Verbinden und Trennen der Zeichen besteht, so betrifft die Wahrheit nur unsre Urteile. Alle Erkenntnis besteht teils aus besondern, teils aus allgemeinen Wahrheiten. Die letztern können nur gehörig mitgeteilt und gefaßt werden, wenn sie in Sätzen ausgesprochen sind, denn bloß in unsern durch allgemeine Sätze bezeichneten Vorstellungen ist die Gewißheit des Allgemeinen zu finden; suchen wir sie außer uns mit Hilfe unsrer Wahrnehmungen, so gelangen wir lediglich zur Erkenntnis des Besondern. Da der Verstand dem Menschen nicht nur zu einem theoretischen, sondern auch zu einem praktischen Gebrauch, nämlich zur vernunftgemäßen Lebensführung, verliehen ist, so würden wir übel daran sein, wenn uns für diesen letztern Behuf lediglich die Gewißheit wahrer Erkenntnis von Nutzen sein könnte. Denn bei deren Beschränktheit würden wir uns in betreff der meisten Handlungen im unklaren befinden, wenn wir nichts hätten, was uns in Ermangelung einer klaren und zuverlässigen Erkenntnis für die praktischen Beziehungen zum Führer dienen könnte. Dazu ist uns das Vermögen des Meinens verliehen, bei dessen Anwendung der Verstand annimmt, daß Vorstellungen übereinstimmen oder sich widersprechend zueinander verhalten, ohne dies unmittelbar mit einzusehen oder hiervon durch zureichende Beweise die einleuchtende, demonstrative Gewißheit erlangt zu haben. Bei dieser Art der Überzeugung, der Wahrscheinlichkeit, gibt es verschiedene Grade von der nächsten Angrenzung an Gewißheit und Demonstration bis zur Unwahrscheinlichkeit und zur Grenze der Unmöglichkeit, denen die Grade der Beistimmung oder des Fürwahrhaltens von der vollen Zuversicht bis herab zur Mutmaßung, zum Zweifel und Mißtrauen entsprechen.

Lockes Empirismus ist als erster Versuch einer auf Selbstwahrnehmung gestützten und nach Vollständigkeit strebenden Behandlung der Erkenntnislehre für die empirische Psychologie von großem Werte gewesen. Auch auf die weitere Entwickelung der Philosophie hat er bedeutenden Einfluß ausgeübt, indem er durch Berkeley zum empirischen Idealismus, durch Hume zum Skeptizismus fortgebildet worden ist, ferner auf die Gestaltung der Lehren Leibnizens eingewirkt hat, der dem Satz Lockes: Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, den Zusatz beifügte: nisi ipse intellectus, und als Begründer der neuern kritischen Erkenntnistheorie zu betrachten ist. Auch die staatsrechtlichen und rechtsphilosophischen Lehren Lockes hinterließen in der Philosophie der Folgezeit wichtige Spuren: auf ihn geht z. B. der Gedanke von der »Teilung der Staatsgewalten« zurück, der später von Montesquieu verbreitet wurde. Lockes »Posthumous works« erschienen 1706, Nachträge dazu (»Collection of several pieces«) 1720. Gesamtausgaben seiner vielfach ausgelegten Schriften erschienen zu London 1801 und 1812 in 10 Bänden und 1835 in 9 Bänden. Die »Philosophical works« gab St. John (Lond. 1854, 2 Bde.) besonders heraus. Sein Leben beschrieben Lord King (Lond. 1829, neue Ausg. 1858) und Fox Bourne (das. 1876, 2 Bde.), letzterer zum Teil nach bisher unbekannten Quellen, durch ungedruckte Briefe und Abhandlungen bereichert; kürzere Biographien von Fowler (das. 1880) und Fraser (das. 1890). Vgl. Tagart, Locke's writings and philosophy (Lond. 1855); Webb, Essay on the intellectualism of John L. (das. 1858); Schärer, John L., seine Verstandestheorie und seine Lehren über Religion, Staat und Erziehung (Leipz. 1860); Cousin, La philosophie de L. (6. Aufl., Par. 1873); Hartenstein, Lockes Lehre von der menschlichen Erkenntnis in Vergleichung mit Leibniz' Kritik derselben (Leipz. 1865); v. Benoit, Darstellung der Lockeschen Erkenntnistheorie (Bern 1870); de Fries, Die Substanzenlehre Lockes (Brem. 1879); Geil, Über die Abhängigkeit Lockes von Descartes (Straßb. 1887); v. Hertling, J. L. und die Schule von Cambridge (Freiburg 1892); Martinak, Die Logik John Lockes (Halle 1894); Küppers, John L. und die Scholastik (Bern 1894); Fechtner, John L., ein Bild aus den geistigen Kämpfen Englands im 17. Jahrhundert (Stuttg. 1898); Pöhlmann, Die Erkenntnislehre Lockes (Erlang. 1897); Hecke, Systematisch-kritische Darstellung der Pädagogik I. Lockes (Gotha 1898); Freytag, Die Substanzenlehre Lockes (Halle 1899); Lezius, Der Toleranzbegriff Lockes und Pufendorfs (Leipz. 1900); Paschkan, Das Verhältnis zwischen Wissen, Meinen und Glauben bei L. (Fokschani 1903); A. C. Fraser, John L. as a factor in modern thought (Lond. 1905, Bd. 1).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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