Lesehallen

Lesehallen

Lesehallen (Bücherhallen, auch Volksbücher- oder Volkslesehallen), für die seit reichlich einem Jahrzehnt in Deutschland lebhaftes Interesse erwacht ist, sind eine vervollkommte Gestalt der Volksbibliotheken, indem sie neben dem Ausleihen der Bücher zu häuslicher Lektüre auch deren Benutzung an Ort und Stelle ermöglichen. Allen andern Ländern voran stehen in der Pflege der Volksbibliotheken und neuerdings meist zugleich der L. Nordamerika (Union) und Großbritannien. Nach einer statistischen Berechnung des Bibliothekars Formby in Liverpool betrugen die für Bibliothekszwecke im letzten Menschenalter (35 Jahre) gestifteten Geschenke und Vermächtnisse bereits 1889 für Großbritannien 20 Mill. Mk., für Nordamerika gar 120 Mill. Mk., und nach einer andern Berechnung von Ogle kamen 1888–96 in Großbritannien dazu noch Spenden im Betrage von 15 Mill. Mk. Auch ist nicht bloß private Wohltätigkeit am Werke. In England erschien bereits 30. Juli 1850 besonders auf Betreiben des verdienten William Ewart ein Gesetz (The Public Libraries and Museums' Act), durch das eine besondere Kommission zur Förderung des Volksbibliothekswesens eingesetzt ward. Dies Gesetz ist später auf Schottland und Irland ausgedehnt, auch wiederholt inhaltlich verbessert und erweitert worden. Es ermächtigt unter anderm die Städte von mehr als 10,000 (jetzt 5000) Einw., eine besondere Steuer von einem halben Penny aufs Pfund Sterling der Gemeindeabgaben zugunsten öffentlicher, allgemein und unentgeltlich zugänglicher Büchereien zu erheben. Bei der 50jährigen Jubelfeier des Gesetzes schätzte man den Bestand der Volksbibliotheken in London auf 4, in ganz England auf 6 Mill. Bände, die jährlichen Ausgaben der beteiligten Städte für deren Erhaltung und Ausbau auf 16 Mill. Mk. Den Ruhm ihres eifrigsten Förderers hat der Philanthrop Passmore Edwards erworben, der mit einem Aufwande von Millionen mehr als 20 Volksbibliotheken und L. auf eigne Kosten errichtete. Ähnlich in Amerika, wo unter andern der bekannte Andrew Carnegie durch großartige Spenden und Anregung des kommunalen Interesses die Vermehrung und bessere Ausstattung der L. förderte.

In Deutschland geschah der erste namhafte Versuch zur Gründung von Volksbibliotheken in Berlin, wo 1. Aug. 1850 vier solcher Institute eröffnet wurden, die dem Publikum dreimal wöchentlich je 1, später je 2 Stunden offen standen. Der Anstoß dazu war vom Historiker Friedrich v. Raumer gegeben, als dieser 1841 auf einer Reise in Nordamerika die schon damals dort verbreiteten Volksbibliotheken kennengelernt hatte. Das Unternehmen stand unter der Protektion des Prinzen von Preußen, spätern Kaisers Wilhelm I. Aus den vier städtischen Volksbibliotheken mit 7411 Bänden wurden bis zum Jahre 1892: 27 (1905. 28) mit 62,437 Bänden (vgl. Buchholtz, Die Volksbibliotheken und L. der Stadt Berlin 1850–1900, Berl. 1900). Auch eigentliche L. besitzt Berlin, nachdem die Gesellschaft für ethische Kultur bereits 1895 eine Lesehalle begründet hatte, seit 1896 (1905: 1 t), die je mit einer der städtischen Volksbibliotheken verbunden sind. Inzwischen waren Volksbibliotheken in einer ganzen Anzahl von deutschen Städten und selbst in ländlichen Kreisen, hier zumeist in der Gestalt von Wanderbibliotheken, begründet worden. Eine Reihe von gemeinnützigen Vereinen war dabei mit tätig, teils örtlicher, teils solcher von allgemeiner Tendenz und Organisation. Besonders sind unter diesen die deutsche Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung (gegründet 1871) und die Gesellschaft für ethische Kultur (1893) hervorzuheben. Überall wuchs mit dem Angebote die Nachfrage in den breitern Schichten des Volkes. Schon 1874 entstand eine öffentliche Lesehalle in Friedberg (Hessen), anscheinend die älteste in Deutschland. Im J. 1893 folgte Freiburg i. Br., angeregt durch den Wiener Professor E. Beyer, der auch in Österreich die Angelegenheit kräftig förderte. Bis 1904 waren bereits Altona, Berlin, Bonn, Bremen, Charlottenburg, Darmstadt, Dresden, Düsseldorf, Eisenach, Erfurt, Frankfurt a. M., Gotha, Greifswald, Guben, Hamburg, Hannover, Hildesheim, Jena, Kattowitz, Köln, Königsberg i. Pr., Leipzig, Lübeck, Lüneburg, Magdeburg, Mainz, Mannheim, Neusalz a. O., Nürnberg, Pforzheim, Schweidnitz, Stuttgart, Tarnowitz, Ulm, Wiesbaden u.a. nachgefolgt. In Essen stiftete 1898 F. A. Krupp eine Bibliothek mit Lesehalle für die Arbeiter seiner Werke, die sich seitdem großartig entwickelte und bereits mehrere Filialen eröffnete. Besonders anregend für die Sache der L. erwies sich das Jahr 1899. Im Anfange dieses Jahres entschloß sich der Gesamtvorstand der weitverzweigten Comeniusgesellschaft, die Förderung der L. in größerm Maßstab aufzunehmen, und wandte sich durch seinen Vorsitzenden, Geh. Archivrat L. Keller-Charlottenburg, im März mit einem Ausschreiben an die Magistrate aller deutschen Städte, um ihnen die Gründung von L. als Pflicht der kommunalen Fürsorge aus Herz zu legen und zugleich auf die beigefügten Grundsätze für die Einrichtung freier öffentlicher Bibliotheken (Bücherhallen) hinzuweisen, über die eine größere Anzahl bibliothekarisch erprobter Fachmänner sich vereinigt hatte. Diese Grundsätze werden kurz in die folgenden leitenden Gesichtspunkte zusammengefaßt: 1) Leitung und Betrieb der Bibliothek durch einen wissenschaftlichen Bibliothekar im Hauptamte; 2) tendenzlose, für alle Kreise des Volkes berechnete Auswahl der Bücher; 3) zentrale Verwaltung; 4) Lage der räumlich ausreichenden Bibliothek an günstiger Stelle der Stadt; 5) Verbindung der Ausleihebibliothek mit einer Lesehalle; 6) freier, durch unnötige Förmlichkeiten nicht erschwerter Zutritt für jedermann an jedem Tag. Am 18. Juli 1899 richtete sodann der preußische Kultusminister Bosse an alle Oberpräsidenten der preußischen Provinzen einen ausführlichen Erlaß zugunsten der Volksbibliotheken und L., deren Pflege er nach wie vor der Tätigkeit freier Vereine und der Fürsorge der Selbstverwaltung in Städten und Landkreisen überlassen, aber durch kräftiges und wohlwollendes Eintreten der staatlichen Behörden gefördert zu sehen wünscht. Auf des Ministers Initiative bewilligte der preußische Landtag einen namhaften jährlichen Betrag (50,000 Mk.) zur Pflege der Volksbibliotheken und L. Auf der 45. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner zu Bremen im September 1899 beschäftigte ein Vortrag des Bibliothekars Konstantin Nörrenberg die vereinigte pädagogische und bibliothekarische Sektion. Der Redner stellte die These auf, daß allgemein zur Ergänzung und Entlastung der Wissenschaftsbibliotheken L. als Bildungsbibliotheken von populärer Tendenz, jedoch ohne den Beigeschmack der Bevormundung, wie er den ältern Volksbibliotheken anhaftete, zu fordern wären. Aus dem verwandten Gedanken der Verbindung von L. mit allgemeinen Gesellschafts- oder Klubhäusern für sozialen Austausch und Ausgleich zur Hebung der arbeitenden Klassen, der in Deutschland besonders zu Jena durch Ernst Abbe (s. d., gest. 14. Jan. 1905) und dessen Zeißstiftung musterhafte Ausführung gefunden, gingen die englischen Toynbeehalls (s. d.) hervor. Vgl. Reyer, Entwickelung und Organisation der Volksbibliotheken (Leipz. 1893) und Fortschritte der volkstümlichen Bibliotheken (das. 1903); Roß. Öffentliche Bücher- und Lesehallen (Hamb. 1897); Nörrenberg, Die Bücherhallenbewegung (Berl. 1898); Huppert, Öffentliche L. (Köln 1899); E. Schultze, Freie öffentliche Bibliotheken, Volksbibliotheken und L. (Stett. 1900); Tews, Handbuch für volkstümliche Leseanstalten (Berl. 1904) und die Zeitschrift »Blätter für Volksbibliotheken und L.« (Leipz., seit 1900, begründet von Graesel, jetzt hrsg. von Liesegang).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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