Kriminalstatistik

Kriminalstatistik

Kriminalstatistik (lat.), derjenige Teil der Statistik (s. d.), der sich mit der Zusammenstellung und wissenschaftlichen Verarbeitung von Ergebnissen der Strafrechtspflege beschäftigt. Danach bezieht sich die K. im engern Sinn nicht auf die ihr manchmal zugerechnete Justizstatistik, die Geschäfts- und Gefängnisstatistik, sondern sie befaßt sich nur mit der wissenschaftlich-statistischen Betrachtung der Kriminalität (s. d.), der Straffälligkeit. Sie will durch Zählung der kriminellen Personen und der Art und Zahl ihrer Handlungen Aufschluß geben über Umfang, Richtung, Stärke und Veränderungen der Kriminalität. Sie betrachtet die Verbrecher nicht wie die Justizstatistik als Gegenstände der richterlichen Tätigkeit, sondern als soziale Wesen, als Angehörige einer Gesellschaft, und erscheint deshalb mehr als ein Teil der Bevölkerungsstatistik (s. Bevölkerung) im weitern Sinn, insbes. der sogen. Moralstatistik (s. d.). Ihre höchste Aufgabe wäre es, durch die Anwendung der Massenbeobachtung Regelmäßigkeiten auf diesem Gebiete der menschlichen Willensbetätigung nachzuweisen, zu den Ursachen dieser letztern und der Regelmäßigkeiten vorzudringen und damit der Strafrechtswissenschaft und der Gesetzgebung die Grundlagen für Reformen zu bieten. Allerdings läßt sich dieses Ziel nur teilweise erreichen. Vor allem können die Resultate der K. nur sehr bedingt als Maßstab für die Moralität einer Bevölkerung angesehen werden, da nur diejenigen Handlungen, die das Strafgesetz als vor die Gerichte gehörig bezeichnet, und unter diesen auch nur die wirklich entdeckten und abgeurteilten sicher erhoben werden können und die vereinzelten Delikte durchaus nicht immer einen Rückschluß auf eine größere oder geringere verbrecherische Gesinnung eines Volkes rechtfertigen (Weiteres s. Kriminalität). Die K. ist gegenüber den übrigen Zweigen der Verwaltungsstatistik frühzeitig und in nicht geringer Ausdehnung gepflegt worden, obgleich bis heute das bei Besprechung der Ziviljustizstatistik (s. Justizstatistik) bemerkte formale Moment der Geschäftsstatistik noch störend einwirkt. In Frankreich beginnen die Nachweisungen (Guerry-Champneuf) schon 1827 (für 1825), in Österreich 1828, in Schweden 1830, in Belgien (Ducpétiaux) 1831, in Dänemark 1832, in den Niederlanden 1850; die Gefängnisstatistik in Frankreich 1852, in Schweden 1835, in den Niederlanden 1854 etc. In den Staaten des Deutschen Reiches (K. S. Zachariä und Mittermaier) ist die Pflege der K. sehr verschieden gewesen, am besten in Bayern, gut in Sachsen, unvollkommener in Preußen. Im Deutschen Reich und in Italien beginnt die Pflege der Statistik dieses Gebietes bald nach deren Konstituierung, und zwar geht von diesen beiden Staaten die reformatorische Bewegung aus, die wir gegenwärtig in der K. sehr zu deren Vorteil sowie zum Vorteil der Wissenschaft und Verwaltung bemerken. Die Hauptpunkte dieser Reform sind: Organisierung eigner statistischer Behörden hierfür, die volle Scheidung der Justizgeschäftsstatistik von der sozialen K., die Einführung der Zählkarten, die Anlegung von Verbrecherkatastern, endlich die Herstellung der Verbindung mit der Gefängnisstatistik.

Was zunächst die spezielle Organisation der K. anbelangt, so fehlt eine solche bisher bis auf eine einzige Ausnahme, nämlich Italien. In diesem Staate besteht, gegründet auf ältere einheimische Vorbilder (Sardinien 1852–57), eine Kommission für die Zivil-, Handels- und K. (Commissione per la statistica civile, commerciale e penale) auf Grund königlicher Dekrete von 1882 etc. In den übrigen Staaten gehen einfach die Daten von den allgemeinen statistischen Ämtern aus. Nur hat das Deutsche Reich seit 1882 mit richtigem Blicke die von Schweden schon 1830 eingeführte vollkommene Scheidung der justiz-geschäftlichen Ausweise von den kriminalstatistischen vorgenommen; die erstern werden unter Einfluß des Justizministeriums, die zweiten allein vom kaiserlichen statistischen Reichsamt bearbeitet. – Was ferner die Methodik der K. anbelangt, so liegt die allerorten als notwendig erkannte und im Deutschen Reiche sowie in Italien (Direktor Bodio) bereits seit 1882, bez. 1890 durchgeführte Reform in der Verwendung der Zählkarten statt der bisher sonst allgemein verwendeten Listen. Die im Deutschen Reiche mit § 563 der Protokolle des Bundesrats vom 5. Dez. 1881 und in Italien mit 1. Jan. 1890 eingeführten Zählkarten werden von den Justizbehörden für jeden Einzelfall besonders ausgefüllt und in dem Statistischen Amt ausgearbeitet. Die Zählkarten enthalten in den beiden Staaten, abgesehen von prozessualen Notizen (die in Klammern stehenden Angaben werden nur in Italien erhoben): 1) die Personaldaten für den Angeklagten, Name, Geburtsort, Geburtstag, Zivilstand (Legitimität, Filiation, Familienverhältnis der Minderjährigen), Beruf (strafrechtlicher Zustand), strafrechtliche Vergangenheit; 2) die strafbaren Handlungen, Bezeichnung der Tat (nach der Anklage) nach dem Urteil, nach Ort und Zeit; 3) die Beendigungsformen und die Strafen. In Österreich beginnt die eigentliche K. im Anfang der 1850er Jahre; die Ergebnisse werden als 3. Heft der »Statistik der Rechtspflege« unter Mitwirkung des Justizministeriums bearbeitet.

Die Justiz- und speziell die K. setzt der internationalen Vergleichung bedeutende Schwierigkeiten entgegen, da es sich nicht um allgemeine und überall gleichbleibende Erscheinungen, sondern um gesetzlich formulierte Tatsachen handelt, wobei die Fixierung in jedem Staat und zu den verschiedenen Zeiten erheblich verschieden ist. Bis zu einem gewissen Grade sind die sich einer internationalen Regelung oder Vergleichung entgegenstellenden Hindernisse geradezu unübersteiglich, insbes. dürfen die einfachen Zahlen nie als vergleichbar angesehen werden. Abgesehen von der Justizgeschäftsstatistik kommen insbes. die internationalen Bestrebungen bezüglich der Kriminal- und der Gefängnisstatistik in Betracht, die von dem internationalen statistischen Kongreß, dem internationalen Gefängniskongreß und insbes. der internationalen kriminalistischen Vereinigung (s. Kriminalistische Vereinigung) ausgehen.

Die Ergebnisse der administrativen K. sind von hervorragender Bedeutung für die Wissenschaft geworden und haben eine bedeutende, sich nach mehreren Richtungen spaltende naturalistische Literatur hervorgerufen. Die älteste ist die metaphysische Richtung Quételets, die sogen. Sozialphysik, die durch Buckle in England und durch A. Wagner und G. v. Mayr in Deutschland Eingang gefunden hat, hier aber von Knapp, Drobisch und Rehnisch bekämpft wird. Sie stützt sich im Wesen auf den Comtismus, und ihr Grundgedanke ist, daß der menschliche Wille nur die Rolle einer akzidentellen Ursache spielt, welche die Wirkung der konstanten Ursachen der Erscheinungen nicht wesentlich zu berühren vermag, von denen die menschliche Geisteswelt ebenso wie die gesamte Natur mit Notwendigkeit beherrscht sei. Ziemlich jung, aber im Wesen verwandt ist die anthropologisch-evolutionistische Richtung Lombrosos (s. d.) und seiner Schule in Italien, welche die Naturnotwendigkeit des Verbrechens vorwiegend durch die körperliche Naturanlage des Menschen begründet findet. Die dritte Richtung ist die sozial-ethische A. v. Öttingens; sie beruht auf der Erkenntnis des Zusammenhanges des Individuums mit der Gesellschaft und der Bedingtheit des erstern von der letztgenannten, wodurch sich die Struktur der Massenerscheinungen und der Gedanke der sozialen Mitschuld ergibt, der von Öttingen theologisch-dogmatisch aufgefaßt wird. Im Gegensatz zu diesen drei Richtungen metaphysischer Art steht ein gewisser statistischer Kritizismus (v. Inama-Sternegg, Platter), der an Stelle der Einführung spekulativer Elemente in die induktive Beweisführung vielmehr die exakte Induktion methodischer Massenbeobachtung fordert. Neben diesen genannten drei metaphysischen Richtungen und ihren kritischen Gegnern stehen dann zahlreiche historisch-deskriptive Bearbeitungen. Diese lehnen sich vorwiegend an die 60jährige zusammenhängende Reihe der französischen kriminalistischen Daten (Ferri, Tarde, Lacassagne, Chaussinand, Robiquet, Soquet etc.), dann an die sehr detaillierte italienische amtliche Statistik (Pavia, Ferri, Lucchini, Soldau, Barzilai etc.) und endlich an die preußische Statistik an (Valentini, Schrader, Stursberg, Starke, Mittelstädt, Illing, Aschrott etc.). Zu Vergleichungen zwischen den Verhältnissen mehrerer Staaten findet sich bei der Eigenart der kriminalstatistischen Daten weniger Anlaß (Bourdet, Bosco etc.). Dabei wäre es aber gefehlt, nicht auch auf die stellenweise trefflichen amtlichen Bearbeitungen des kriminalstatistischen Materials hinzuweisen: so der französischen offiziellen K. durch Yvernès, insbes. im Jahrgang 1880 des »Compte rendu«, der die ganze Periode 1826–80 umfaßt; ferner der bayrischen Statistik (v. Mayr), der sächsischen (Böhmert) und württembergischen (Rettich) wie auch der österreichischen (1849–59 und auch neuerdings wieder) und endlich der italienischen Arbeiten Bodios. Die K. des Deutschen Reiches (seit 1882 erschienen 21 Bde. in der »Statistik des Deutschen Reiches, neue Folge«) bietet mehr eine Umschreibung der amtlich erlangten Zahlen als eine ursachliche Durchforschung derselben. Vgl. E. Mischler, Zur Organisation und Methodik der K. (in der Wiener »Statistischen Monatsschrift«, Bd. 16, Heft 5); Köbner, Die Methode einer wissenschaftlichen und einheitlichen Rückfallstatistik (Berl. 1893); v. Scheel, Einführung in die K. (im »Allgemeinen statistischen Archiv«, 1898, Tübing.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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