Anglikanische Kirche

Anglikanische Kirche

Anglikanische Kirche (Anglokatholische Kirche, Established Church of England), die Staatskirche in England, die hinsichtlich der Lehre den reformierten Kirchen beizuzählen ist, in Kultus und Kirchenverfassung aber zwischen Katholizismus und Protestantismus die Mitte hält. Diese ihre eigentümliche Stellung erklärt sich aus der Art und Weise ihrer Entstehung. Die Reformation Englands ist nicht wie die deutsche aus einer religiösen Bewegung des Volkes hervorgegangen, an deren Spitze sich dann die Großen gestellt hätten, sondern der Bruch mit Rom war die Folge des launenhaften Eigenwillens eines tyrannischen Königs. Erst als sich unter den Nachfolgern desselben zeigte, wie eng die politische mit der religiösen Freiheit verbunden sei, wurde im Kampf mit politischer Willkür der englische Volksgeist eng an den Protestantismus gekettet. Vorbereitet war zwar auch hier die Reformation, teils durch Wiclif und die Lollarden, teils durch die Humanisten. Gleichwohl blieben alle reformatorischen Bewegungen so lange vergeblich, als nicht die politische Gewalt des Staates sich mit ihr verbunden hatte. Heinrich VIII., der das Band mit Rom zerriß, war seiner ganzen Denkweise nach der römischen Lehre zugetan, wie er denn nicht allein die protestantisch Gesinnten in seinem Lande verfolgt, sondern auch durch eine Streitschrift gegen Luther sich den Ehrentitel eines Beschützers des Glaubens erworben hatte. Erst als der Papst seine Ehe mit Katharina von Aragonien nicht auflösen wollte, ließ der König vom Parlament die Rechte des Papstes vernichten und schloß 1533 ohne päpstliche Dispensation seine Ehe mit Anna Boleyn. Als der Papst 1534 den Bann über ihn aussprach und 3. Nov. d. J. die Suprematsakte den König zum Haupte der englischen Kirche machte, 1536–40 die sämtlichen Klöster und Abteien unter Einziehung ihres Vermögens aufgehoben wurden, ward der Bruch mit Rom zur Tatsache. Doch blieb die neukonstituierte Kirche ihrem Wesen nach in Kultus und Lehre katholisch, und nur in wenigen Punkten konnten der evangelisch gesinnte Erzbischof Cranmer und der Staatssekretär Cromwell für eine vermittelnde Auffassung Raum gewinnen. 1539 bedrohten die sechs Blutartikel mit dem Tode jeden Angriff auf die Lehren von der Transsubstantiation und der Kelchentziehung, dem Zölibat und der Unauflöslichkeit des Keuschheitsgelübdes, der Ohrenbeichte und den Seelenmessen. Noch 1547 erneuerte der König das Verbot der Bibel. Erst unter Eduard VI., für den der der Reformation günstige Herzog von Somerset die Regentschaft führte, durften die unter Heinrich Verbannten zurückkehren. Auch wurden ausländische Gelehrte, wie Martin Bucer und Fagius aus Straßburg, berufen, unter deren Beihilfe die Liturgie geändert ward. 1549 wurde das Abendmahl unter beiderlei Gestalt eingeführt und die Priesterehe gestattet. Das von Cranmer entworfene allgemeine Gebetbuch erhielt 1549 kirchliche Sanktion. Durch den Einfluß des Auslandes empfing die a. K. den reformierten Charakter, der schon in der Revision des allgemeinen Gebetbuches und in dem Glaubensbekenntnis der 42 Artikel von 1552 sich deutlich ausspricht. Die Herrschaft der katholischen Maria (1553–58) brachte eine kurze blutige Reaktion des Katholizismus. Bald nach Elisabeths Thronbesteigung aber ward 1. Febr. 1559 die Suprematie der Krone wiederhergestellt, im selben Jahre wurde das revidierte Gebetbuch eingeführt, und mit der Feststellung der »39 Artikel« (1563, bez. 1571), der Einführung des neuen Katechismus und einer revidierten Bibelübersetzung war der Bau der englischen Staatskirche vollendet. Derselben zufolge erschien jeder kirchliche Ungehorsam als Insubordination und Hochverrat, und die Gesetzgebung der letzten Jahre Elisabeths wandte sich nicht bloß gegen die Katholiken, sondern auch gegen die Presbyterianer und Puritaner, die an dem Ritual und der Hierarchie Anstoß nahmen, wie gegen andre unter den Namen Nonkonformisten oder Dissenters, Independenten (s. diese Artikel) etc. zusammengefaßte Sekten. Jakob 1. gab alles Kirchengut in dem unterworfenen Irland dem aufgezwungenen anglikanischen Klerus, obwohl das Land katholisch blieb. Die Bedrückung der Katholiken hatte 1641 das entsetzliche irische Blutbad zur Folge, in dem die Mehrzahl der Protestanten ermordet wurde, die überlebenden die Insel verlassen mußten. Als aber unter Karl I. durch Erzbischof Land das mit dem politischen Absolutismus verbundene Prälatentum in Willkür und Despotismus ausartete und durch ein ausgebildetes Zeremonienwesen Anstoß gab, rief der Versuch, die bischöfliche Kirche in Schottland einzuführen, dort 1637 eine Empörung hervor. Auch in England verband sich gleich darauf die politische mit der kirchlichen Opposition und wurde 1643 der Presbyterianismus zur herrschenden Kirche bis zur Wiederherstellung der Staatskirche durch die neue Uniformitätsakte von 1662 (s. Dissenters). Erst das 19. Jahrh. hat die enge Verbindung von Staat und Kirche in England zu lockern vermocht.

Die innere Verfassung der anglikanischen Kirche ist eine rein hierarchische. Die Geistlichkeit besteht aus Bischöfen, Priestern und Diakonen (deacons). Unter den beiden Erzbischöfen von Canterbury (Primas und erster Peer des Reiches) und von York stehen 33 Diözesanbischöfe, von denen indes nur 24 im Herrenhaus Sitz und Stimme haben, und 17 Suffraganbischöfe. Jedem Bischof steht ein Kapitel (chapter) zur Seite, zu dem außer dem Dekan (dean) auch noch Chorherren (canons), Domherren (prebendaries), Archidiakonen (archdeacons) und andre Würdenträger einschließlich eines rechtsgelehrten vicar gehören. Die Bischöfe, die meisten Dekane und viele der andern Würdenträger werden von der Krone ernannt. Die Bischöfe beziehen einen Gehalt von 1500–15,000 Pfd. Sterl. jährlich, die Dekane 500–3000 Pfd. Sterl. Die Pfarreien (benefices, livings) werden von Patronatsherren besetzt. Dieses Besetzungsrecht (advowson) wird in den meisten Fällen von Privatpersonen ausgeübt, doch wird der Kandidat nur dann vom Bischof in sein Amt eingeführt, wenn er die nötige Qualifikation besitzt. Die Pfründner (incumbents) sind entweder rectors, wenn sie im Vollgenuß des Zehnten und des Ertrags des Pfarrlandes (glebe) stehen, vicars, wenn sie nur den »kleinen« Zehnten beziehen, oder perpetual curates, die in dotierten Filialkirchen den Dienst versehen. In größern Gemeinden wird der Pfarrherr durch Hilfsgeistliche (stipendiary curates) unterstützt. Die Gesetzgebung sorgt dafür, daß die Pfründner wenigstens einen Teil des Jahres selbst den Gottesdienst versehen. Auch die früher übliche Vereinigung von vielen Pfründen in einer Hand (plurality) ist eingeschränkt worden. Daß indes bei obwaltenden Verhältnissen das Recht der Besetzung (noch bei Lebzeiten eines Pfründners) an den Meistbietenden versteigert werden kann, und daß viele reichdotierte Pfarreien als Ausstattung in den Besitz der jüngern Söhne der großen Gutsherren und der bischöflichen Verwandten gelangen, ist wohl selbstverständlich. Es gibt zur Zeit etwa 23,000 Geistliche, mit und ohne Pfründe, und etwa 14,000 Pfründen mit einem Jahreswert von etwa 5 Mill. Pfd. Sterl. Die Hälfte dieser Pfründen bringt dem Inhaber unter 130 Pfd. Sterl. Den Bischöfen liegt die gesamte innere Verwaltung der Kirche ob, auch stehen ihnen die Disziplin und die Gerichtsbarkeit zu. Jedes der beiden Erzbistümer hat sein House of Convocation, in dem die Bischöfe, die Dekane und Vertreter der Kapitel und der niedern Geistlichkeit (proctors) Sitz und Stimme haben. Die Beschlüsse unterliegen der Genehmigung des Parlaments. Das Laienelement wird durch einen jährlich tagenden Church Congress (seit 1868) vertreten. Für die Bildung der Geistlichkeit sorgen außer den Universitäten noch 18 theologische Seminare.

Die jährliche Gesamteinnahme der anglikanischen Kirche wird auf über lu Mill. Pfd. Sterl. geschätzt. Sie entspringt dem seit 1836 an die Stelle des Zehnten getretenen Erbzins, dessen Betrag von sieben zu sieben Jahren festgesetzt wird, liegenden Gütern, angelegtem Kapital, Stolgebühren, Kirchstuhlmieten und freiwilligen Gaben. Die Kirchensteuer (church rate) ist seit 1868 abgeschafft. Aus den Annaten (first fruits) werden die Einnahmen gering dotierter Pfründen erhöht (sogen. Queen Anne's Bounty, weil diese Bestimmung zur Zeit der Königin Anna getroffen wurde). Sehr bedeutend sind die freiwilligen Gaben für kirchliche und für Zwecke der innern und äußern Mission. Die 24 Gesellschaften für äußere Mission haben eine Jahreseinnahme von über 500,000 Pfd. Sterl. Allein für Kirchenbauten wurden 1884–93 13,500,000 Pfd. Sterl. gezahlt.

Der Gottesdienst ist durch das allgemeine Gebetbuch (s. Book of Common Prayer) genau geregelt und zeichnet sich durch liturgischen Reichtum unter allen evangelischen Kulten aus. Die Predigt tritt hinter der Liturgie zurück. In der Lehre ist die a. K. durchaus protestantisch; denn die neununddreißig Artikel, das eigentliche Glaubenssymbol, auf das alle Geistlichen verpflichtet werden, stimmen z. T. wörtlich mit den deutschen evangelischen, insbes. reformierten Bekenntnisschriften überein. Die rein juristische formelle Anwendung der 39 Artikel bei der Bemessung der Lehrfreiheit der Geistlichen hindert aber nicht, daß auch in der anglikanischen Kirche die verschiedensten Richtungen sich geltend machen. Man pflegt drei Parteien zu unterscheiden: Die hochkirchliche Partei (High Church Party) hält vor allem an der Verfassung und dem allgemeinen Gebetbuch fest. Aus ihr sind hervorgegangen die Puseyiten oder Traktarianer, auch Anglokatholiken oder Ritualisten genannt, die, Pusey (s. d.) folgend, im Ritus und im Dogma sich sehr dem Katholizismus nähern und ihren Anhang besonders in der vornehmen Welt haben (s. Ritualistischer Streit). Die niederkirchliche Partei (Low Church oder Evangelical Party) legt weniger Wert auf Ritus und Verfassung als auf tätiges Christentum in innerer und äußerer Mission. Aus dieser Partei ging die 1846 gestiftete Evangelische Allianz (s. d.) hervor. In der Partei der sogen. Breitkirchlichen (Broad Church Party) ringt eine freiere, von deutscher Wissenschaft angeregte Theologie nach kirchlicher Anerkennung; zu ihr gehörten Männer wie Arnold, Colenso, A. P. Stanley. Die a. K. beschränkt sich als Staatskirche auf England, Wales und die Insel Man; doch sind aus ihr mehrere Tochterkirchen hervorgegangen. Die protestantisch-bischöfliche Kirche von Irland, 1800 mit der anglikanischen Kirche als United Church of England and Ireland vereinigt, ist seit 1871 unabhängig und hat die 39 Artikel in wesentlichen Punkten abgeändert. Sie steht unter 13 Bischöfen und hat eine Synode, in der neben den Bischöfen und 208 Vertretern der Geistlichkeit auch 416 Laien Sitz und Stimme haben. Die Episcopal Church in Schottland (7 Bischöfe) sowohl als die American Episcopal Church in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Church of Canada, die Church of Australia, die Indian Church und die Church of South Africa sind gleichfalls Tochterkirchen, aber mit vollkommen selbständiger Verwaltung. Dahingegen stehen die Bischöfe in den Kolonien, die Missionsbischöfe in Heidenländern und eine größere Zahl unabhängiger Gemeinden im Auslande noch in einigem Zusammenhang mit der Mutterkirche, die ihnen bedeutende Unterstützungen gewährt. Doch ist die a. K. in keiner der Kolonien Staatskirche und sieht sich betreffs ihrer Erhaltung fast lediglich auf die Beisteuer der Gemeindemitglieder angewiesen. Alle zehn Jahre vereinigen sich die Bischöfe der anglikanischen Kirche zu einer Konferenz im erzbischöflichen Palast zu Canterbury (sogen. Lambethkonferenz), an der 1897: 194 Bischöfe teilnahmen. Vgl. G. Weber, Geschichte der Kirchenreformation in England (neue Ausg., Leipz. 1856, 2 Bde.); L. v. Ranke, Englische Geschichte (4. Aufl., das. 1877–79, 9 Bde.); Perry, A history of the English Church (Lond. 1861–1864 u. ö., 3 Bde.); R. W. Dixon. History of the Church of England trom the abolition of the Roman jurisdiction (Bd. 1–6, das. 1878–1902, bis 1570 reichend); Makower, Die Verfassung der Kirche von England (Berl. 1894); Overton, Life in the English Church (3 Bde., Lond. 1885,1887,1894).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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