Gymnástik

Gymnástik

Gymnástik (griech., von gymnázein, »üben, turnen«), die Kunst der Leibesübungen, so genannt, weil derartige Übungen bei den Griechen nackt (gymnós) angestellt wurden. Das Wort bezeichnet das wissenschaftlich begründete und allseitig ausgebildete System der Pflege, Stärkung und Übung der Körperkräfte, wie auch die Übung selbst. Indem die G. allgemeine und gleichmäßige Ausbildung des Körpers bezweckt, unterscheidet sie sich von. der Athletik (s. d.), die den Körper durch einseitige Übungen zu hervorragenden Einzelleistungen geschickt machen will, und von der Agonistik (s. Agon), die bei ihren Übungen vorzugsweise das Auftreten in Wettkämpfen im Auge hat.

Als Kunst, die nach bestimmten Regeln den ganzen Körper zur höchsten Vollkommenheit bilden will, haben die G. zuerst die Griechen aufgefaßt, die, in der Kalokagathie (s. d.), der Vereinigung einer edlen Seele mit einem schönen Körper, das Ideal des Menschen sehend, die Bildung des Körpers für nicht minder wichtig als die der Seele erachteten. Schon bei Homer galt es für schimpflich, in der G. nicht erfahren zu sein. Später war die G. dem freien Bürger notwendige Vorschule für den Kriegsdienst. In Sparta wurden sogar die Mädchen zu gymnastischen Übungen herangezogen. Aber nicht nur einen wichtigen (in Sparta sogar den wichtigsten) Teil in der Jugenderziehung bildete die G., auch freie und unabhängige Männer übten sich bis ins Alter in den Turnschulen und erhielten sich dadurch die Rüstigkeit des Körpers. Die einfachen und doch in ihrer weisen Verbindung alle Glieder des Körpers gleichmäßig ausbildenden Übungen der Griechen waren: Hoch-, Tief- und Weitsprung, letzterer mit Halteren (s. d.) ausgeführt, Speerwurf, Schnellauf (s. Dromos), Diskoswerfen (s. Diskos), Ringkampf (s. Pale). Diese fünf unter dem Namen Pentathlon zusammengefaßten Übungen fanden für Knaben in der Palästra (s. d.) statt; Jünglinge und Männer besuchten das Gymnasium (s. d.). Öffentliche Lehrer der G. gab es nicht; die Knaben übten unter den Augen und nach den Weisungen zuschauender Bürger; vom Staat angestellte Gymnasiarchen (s. d.), auch Pädonomen und Kosmeten genannt, führten die Oberaufsicht. Häufig vereinigte auch ein Privatlehrer (Pädotribe) die Kinder mehrerer Eltern. Eine weitere Ausbildung gaben die Gymnasten (s. d.). Vor den Übungen wurde der Körper mit Öl eingerieben, um die Glieder elastisch zu machen. Vor dem Ringen dagegen bestäubte man sich wieder mit Sand, um das Festhalten zu erleichtern. Nach den Übungen gaben große Bassins und Wannen Gelegenheit zur Reinigung des Körpers in warmen und kalten Bädern, wobei man Öl, Schweiß und Sand mit Striegeln entfernte. Nach dem Bade wurde eine Einreibung und Massage des Körpers von den Aleipten (s. d.) vorgenommen. Bildeten auch die Teile des Pentathlon die Hauptübungen in den Palästren und Gymnasien, so waren sie doch nicht die einzigen. Beim Baden wurde das Schwimmen fleißig geübt und zu großer Vollkommenheit gebracht. In manchen Staaten kam noch Bogenschießen und Schleudern hinzu; vor allem ergötzte seit Homers Zeiten das Ballspiel in den verschiedensten Arten jung und alt. Nicht sowohl zur G. als zur Athletik (s. d.) gehörten die Übungen im Faustkampf (s. Pygme) und Pankration (s. d.), obwohl sie später mit Ausnahme von Sparta allgemeine Aufnahme in die Gymnasien fanden. Durchaus aber wurde zur G. gerechnet die allerdings nur Reichen zugängliche Kunst des Wagenführens und Wettreitens im Hippodromos (s. d.). – Mit dem politischen Verfall Griechenlands seit dem Peloponnesischen Kriege sank auch das Interesse an dieser hervorragend politischen Institution; die gewerbsmäßige Athletik gewann immer mehr die Oberhand.

In Rom betrieb von alters her die Jugend auf dem Marsfeld Leibesübungen, aber ausschließlich als Vorbereitung zum Kriegsdienst. Die griechische G., die die Römer erst in ihrem Verfall kennen lernten, und die zudem wegen der Nacktheit der Übenden dem römischen Anstandsgefühl widerstrebte, gewann keinerlei Bedeutung für das Volksleben wie in Griechenland.

Mit welchem Eifer die altgermanischen Völker die G. auf ihre Weise pflegten, zeigen die Berichte römischer Schriftsteller von den außerordentlichen Leistungen der germanischen Jünglinge im Laufen, Springen u. dgl. Den Fortbestand solcher Übungen und Fertigkeiten auch in der Folge lassen die Dichtungen, wie das Nibelungenlied, vielfach erkennen. Ähnliche Stellung und Bedeutung wie die gymnastischen Spiele im hellenischen Altertum beanspruchen später die ritterlichen Kampfspiele der Turniere (s. d.), zugleich Erzeugnis und wirksames Beförderungsmittel ritterlicher Mannhaftigkeit und Tüchtigkeit. Mit dem Verfall des Ritterwesens traten minder ernste Wettspiele, die sogen. Karusselle, an ihre Stelle, die aber hauptsächlich Reiterkünste zur Anschauung bringen sollten. Nach der Umgestaltung der Kriegführung durch das Schießpulver kamen jene ritterlich-gymnastischen Übungen und Spiele mehr und mehr außer Gebrauch. Nur einzelne Überreste erhielten sich in manchen Kreisen und wurden teils durch Einwirkung der Mode, teils zu Wahrung persönlicher Ehre und Tüchtigkeit kunstgerecht ausgebildet, wie die Fechtkunst (s. d.). Andres bestand fort, weil es, ganz abgesehen vom Kampf, sonstigen Bedürfnissen oder auch dem Vergnügen diente, so namentlich Reiten, Tanzen, Schlittschuhlaufen, Schwimmen, Rudern, Ballspiel etc. Noch andres, soz. B. Vogel- und Scheibenschießen mit Büchse und Armbrust, Mastklettern, Wettlaufen, Wettrennen und Wettspringen, das Werfen in die Weite und nach einem Ziel etc., hat sich im Anschluß an Volksfeste zum Teil bis heute erhalten und findet gerade jetzt in den mancherlei Sportgesellschaften eifrige Förderung.

Die Geschichte der Wiederbelebung der G. als einer allseitigen, systematischen Leibesbildung ist die Geschichte der G. in ihrer deutsch-nationalen Entwickelung, der Turnkunst (s. d.). Über Heilgymnastik und Zimmergymnastik s. diese Artikel. Aus der zahlreichen auf G. und Verwandtes sich beziehenden Literatur möge hier erwähnt werden: Krause, Die G. und Agonistik der Hellenen (Leipz. 1840–41, 2 Bde.); O. H. Jäger, Die G. der Hellenen (neue Bearbeitung, Stuttg. 1881); K. F. Hermann, Lehrbuch der griechischen Antiquitäten (neue Bearbeitung von Blümner, Bd. 4, Freiburg 1882); Bintz, Die G. der Hellenen (Gütersloh 1877, mit ausführlichem Nachweis der Literatur).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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