Geist

Geist

Geist, ein sehr vieldeutiges Wort, das ursprünglich (mittelhochd. gîst, »das Brausende«) wie die gleichbedeutenden Ausdrücke spiritus (lat.) und pneuma (griech.) die strömende Luft bezeichnet. In der Tat wird von den meisten Naturvölkern der G. oder die Seele als ein vom Leibe verschiedenes, aber denselben bewohnendes und beherrschendes lust-, feuer- oder ätherartiges Wesen gedacht, das sich schon im Leben unter Umständen (z. B. im Schlafe) zeitweilig, im Tod aber dauernd von ihm trennt, um dann als G. im engern Sinne (Schatten, Gespenst) weiter zu existieren. Den menschlichen Geistern hat sodann die mythologische Phantasie noch eine ganze Welt über- und untermenschlicher, teils guter, teils böser Geister an die Seite gestellt (s. Geisterseherei). Erst das tiefere spekulative Denken, dessen älteste Erzeugnisse in den orientalischen Religionen (insbes. dem Brahmanismus und dem jüdischen Monotheismus) vorliegen, hat den Begriff des reinen, gänzlich immateriellen Geistes entwickelt, der aber zunächst nur für die Gottheit gilt. In der griechischen Philosophie führte Anaxagoras (s.d.) den Begriff des Weltgeistes ein, aber erst Platon definierte auch die menschliche Seele als ein immaterielles, geistiges Wesen. Seitdem gehörte der allgemeine Begriff der geistigen Substanz als einer von der Materie wesensverschiedenen und ihr entgegengesetzten Art des Seienden zu den Grundbegriffen der Metaphysik, in der sich nach der Stellung, die sie ihm gegenüber einnehmen, drei Hauptrichtungen unterscheiden lassen. Der Dualismus (s.d.) nimmt an, daß es in der Welt Geister und Körper nebeneinander und unabhängig voneinander gibt, und betrachtet den Menschen als ein aus G. und Körper zusammengesetztes Doppelwesen; der Materialismus (s.d.) leugnet die Existenz des erstern, der Spiritualismus (s.d.) die des letztern, d. h. jener betrachtet die geistigen Erscheinungen (an Menschen und Tieren) als Funktionen des Körpers, dieser sieht in den Körpern nur die äußere Erscheinungsform geistiger Wesen. Der Materialismus stützt sich hauptsächlich auf den Umstand, daß es sehr schwierig ist, sich eine anschauliche Vorstellung von einer 'geistigen Substanz zu machen und deren Begriff durch positive Merkmale und nicht bloß durch Verneinung der den Körpern zukommenden Eigenschaften zu definieren. Denn wenn Descartes das Wesen der geistigen Substanzen in das Denken, das der materiellen in die Ausdehnung setzte, so ist dagegen zu bemerken, daß wir zwar die Denktätigkeit aus der innern Erfahrung kennen, ein Subjekt dieser Tätigkeit aber nicht wahrnehmen; ebensowenig kann der G. mit dem Bewußtsein identifiziert werden, da dies nur eine Eigenschaft geistiger Vorgänge und nichts Wesenhaftes bezeichnet. Die neuere Metaphysik hat daher an Stelle der substanziellen die aktuelle Auffassung des Geistigen als einer Tätigkeit oder Funktion gesetzt und ist nur schwankend, ob das Wollen oder das Vorstellen als die Grundform geistiger Tätigkeit anzusehen ist. Die Durchführbarkeit des Spiritualismus hängt natürlich ganz von der Definition des Geistigen ab, unberührt von ihr bleibt die Unterscheidung von Natur und Geist als der zwei Gebiete der Wirklichkeit, die, mögen sie einen einheitlichen metaphysischen Grund haben oder nicht, zunächst jede für sich zu erforschen sind. Dementsprechend pflegt man auch die Wissenschaften in Natur wissenschaften und Geistes wissenschaften einzuteilen. Mit der Erforschung des individuellen (subjektiven) geistigen Lebens beschäftigt sich speziell die Psychologie (s.d.), während die übrigen Geisteswissenschaften (Sprachwissenschaft, Sozialwissenschaft, Geschichte etc.) das universelle, die einzelnen Individuen umfassende und ihre Entwickelung bedingende geistige Leben an seinen objektiven (äußerlich wahrnehmbaren) Erzeugnissen (Sprache, Staats- und Gesellschaftsformen etc.) studieren. Die Philosophie des Geistes sucht als Abschluß der Geisteswissenschaften eine einheitliche Auffassung der Gesamtheit der geistigen Erscheinungen in der Welt zu gewinnen. Dabei treten aber zwei Richtungen in Gegensatz zueinander: während der Individualismus (s.d.) eine Vielheit selbständiger geistiger Mittelpunkte annimmt, durch deren Zusammenwirken erst eine Einheit des geistigen Lebens in der Welt hervorgebracht wird, betrachtet der Universalismus diese Einheit als das Ursprüngliche, er sieht in den auf eine Vielheit von Individuen zerstreuten geistigen Erscheinungen Betätigungen eines Allgeistes (des »Weltgeistes« bei Hegel). Ausdrücke wie: der G. der Zeit, der G. eines Volkes, der G. der Menschheit etc. haben demnach auf beiden Standpunkten eine verschiedene Bedeutung; im Sinne des erstern können mit ihnen nur gewisse leitende Ideen gemeint sein, von denen eine Mehrzahl von Individuen gleicherweise erfüllt ist, im Sinne des letztern ist der (universelle) G. der Zeit etc. eine ebenso reale Einheit wie der G. des einzelnen. – In einer engern (psychologischen) Bedeutung wird das Wort G. auch gebraucht, um im Gegensatz zum Gemüt (Herz), der Quelle der Gefühle, die schöpferische Intelligenz im Menschen zu bezeichnen, also das Vermögen zu urteilen, gegebene Data zu kombinieren und zu neuen Ergebnissen zu gelangen. Geistreich nennen wir deshalb die Urheber kühner Ideen, sinnreicher Kombinationen, witziger Einfälle, treffender Vergleichungen, origineller, ja paradoxer Ansichten und diese selbst, während alles bloß Nachgeahmte, auf mechanischer Einübung Beruhende, nach der allgemeinen Schablone Gedachte geistlos heißt (ein geistloses Buch, Gespräch etc.). Freigeist heißt ein über alle (insbes. die religiöse) Überlieferung sich hinwegsetzender, nur seiner eignen Vernunft folgender Denker (s. Freidenker). Endlich drückt das Wort G. auch in übertragener Bedeutung den Kern eines Gedankens oder einer Sache, das Wesentliche, Bedeutende im Gegensatz zum »Buchstaben«, der Schale, der unwesentlichen Form aus (G. eines Buches, eines Gesetzes etc.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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