Ferienkolonien

Ferienkolonien

Ferienkolonien, Veranstaltungen, um schwächlichen Schulkindern bedürftiger Eltern in den Städten während der Sommermonate, besonders in der Ferienzeit, zuträglichen Aufenthalt auf dem Land oder an der See zu gewähren. Die ersten F. begründeten der Züricher Pfarrer Bion, der 1876 nahezu 70 arme Kinder in ein Appenzeller Waldtal sandte, und der Hamburger Schulverein, der in demselben Jahr sieben Kindern Landaufenthalt verschaffte. 1878 folgte Frankfurt a. M. mit 97 Kindern. Seitdem haben sich die F. über die ganze gebildete Welt verbreitet und namentlich in England und Nordamerika sehr stark entwickelt. In Deutschland hielten die Komitees für F. 1881 eine erste Konferenz ab (damals wurden 3070 Kinder verpflegt), 1885 wurde in Bremen eine Zentralstelle der Vereinigungen für Sommerpflege geschaffen, deren geschäftliche Leitung der Berliner Verein für häusliche Gesundheitspflege übernommen hat, und die regelmäßige Berichte erstattet. Auf einer dritten Konferenz in Frankfurt a. M. wurden 1887 gemeinsame Grundsätze für die Förderung der F. vereinbart. 1888 fand ein internationaler Kongreß für F. in Zürich statt. Während man anfänglich die Pflegezeit auf die Dauer der Schulferien beschränkte, beginnt man jetzt an einigen Orten schon im April und schließt erst gegen Ende Oktober. Zu dieser Ausdehnung veranlaßte sowohl die wachsende Anzahl der Pfleglinge als auch die Erfahrung, daß die Witterungszustände im Mai, Juni und September günstigern Einfluß ausüben als die vielfach gewitterreichen Tage des Juli und August, hauptsächlich aber die Beschaffung eigner Häuser und Einrichtungen (Ferienheime) seitens mancher Vereinigungen, die man nun auch besser auszuwerten trachtete. Sehr wichtig für das Gedeihen des Sommerpflegewesens war auch die Beschränkung auf kranke, schwächliche Kinder der ärmern Bevölkerung und auf die freiwillig dargebrachten Mittel. Man hat bisher mehr als 300,000 Pfleglinge aufgenommen und über 12 Mill. Mk. ausgegeben. Das ganze Kinderpflegewesen gliedert sich in Deutschland in drei Zweige, deren größter jetzt noch das Ferienkoloniewesen ime ngern Sinn ist, während die Entwickelung neuerdings vorwiegend in den Solbäderpflegestätten liegt. In diese Heilstätten werden im allgemeinen solche Kinder geschickt, bei denen ein wirklicher Krankheitszustand vorliegt, der so weit vorgeschritten ist, daß ärztliche Behandlung und Pflege als notwendig erscheint. Die eigentlichen Ferienkolonisten werden in Ferienheimen oder in Familien untergebracht, sehr vielen Kindern aber kann man dies nicht gewähren, muß sich vielmehr auf die Einrichtung von Stadtkolonien (Halbkolonien, Milchstationen) beschränken. Die Kinder bleiben im elterlichen Haus und werden nur tagsüber an bestimmten Stellen der Stadt versammelt, um Milch zu trinken und zu Spaziergängen, Spiel und Badeplätzen geführt zu werden. Man bestimmt zu diesen Stadtkolonien Kinder, bei denen der Schwächezustand noch in den Anfangsstadien besteht, aber auch solche, die wegen beschränkter körperlicher Leistungsfähigkeit für F. sich nicht eignen, oder deren längere Abwesenheit aus der elterlichen Wohnung aus irgend einem Grund ausgeschlossen ist. Die Stadtkolonien besitzen den Vorzug, daß die Dauer der Pflege nach Bedürfnis abgekürzt oder verlängert werden kann. Für kräftigere Kinder hat man auch Wanderkolonien gegründet, zuerst in Frankfurt a. M., von wo die Kinder unter Führung von Lehrern und Lehrerinnen durch benachbarte Gebirge wandern, dann auch in Berlin, wo auch Spielkolonien eingerichtet worden sind, deren Zöglinge in den Ferien auf Schulhöfen und in städtischen Parken die Nachmittage unter Leitung geeigneter Personen bei Gesang und Spiel zubringen.

Die F. sollen auch eine erziehliche Wirksamkeit entfalten, und es hat sich gezeigt, daß in dieser Hinsicht gemeinsame Unterbringung von Knaben und Mädchen, gewöhnlich solche bis zu 10 Jahren, bei sorgfältiger Auswahl der Kinder günstig wirkt. Am vollkommensten werden die Zwecke der F. in eignen Heimen erreicht, die völlig den Bedürfnissen angepaßt werden können. Ermietete Lokale bleiben Notbehelfe, und bei der Unterbringung der Pfleglinge in Familien ist man mehr oder weniger dem Zufall preisgegeben. Jedenfalls ist die Familienpflege nur bei kleinen Kolonien anwendbar, und die Gelegenheiten, auch nur für ein paar Kinder Unterkunft in besser situierten Familien zu finden, werden seltener. Das Pflegepersonal besteht in der Regel aus Lehrern und Lehrerinnen, doch haben sich auch Frauen diesem Dienst gewidmet und vielfach Diakonissen.

Die Diät ist in den eignen Ferienheimen und den geschlossenen Kolonien unter ärztlicher Überwachung geregelt. Im allgemeinen erhält ein Kind täglich 1 Lit. Milch, 500 g Brot, 125 g gutes Fleisch, 30 g Butter und nach Gefallen Gemüse und Kartoffeln. Abends wird eine nahrhafte Suppe oder etwas Belag zum Brot gereicht. In Solbädern tritt die Milchdiät in den Vordergrund, in den Seebädern erhalten 8–15jährige Pfleglinge durchschnittlich täglich 190,35 g Eiweiß, 81,96 g Fett und 365,12 g Kohlehydrate. Die Milch ist hierin mit 0,5 Lit., Weizenbrot mit 210, Roggenbrot mit 300, Butter mit 30 g, Bier mit 0,25 Lit. beteiligt. Einzelne Vereinigungen nehmen Kinder von 5 Jahren an und Knaben bis zum vollendeten 9. oder 10., Mädchen bis zum vollendeten 12. Lebensjahr, andre ausschließlich Kinder von 11–14 Jahren. Allgemein überwiegen unter den Pfleglingen die Mädchen und unter diesen die ältern. Man fürchtet die größern Ansprüche, die jüngere Kinder an die Pflegetätigkeit stellen, und legt Wert darauf, daß namentlich Mädchen kurz vor dem Eintritt ins praktische Leben der Kräftigung und eines Stückes guter Erziehung am meisten bedürfen. Kleine Kolonien enthalten 12 bis 20, größere bis 25, selten 30 Pfleglinge. Unter günstigen Verhältnissen kann man auf 40 gehen, doch sind dann 1 oder 2 Hilfskräfte erforderlich, die sich der Beschäftigung der Kinder spezieller widmen. Für die bei weitem meisten F. fallen die Pflegezeiten in den Juli, August und September. In einzelnen Solbädern, auf Norderney und Sylt, wird die Pflege das ganze Jahr hindurch fortgesetzt. Halbkolonien haben vielfach Winterpflege, d. h. Verabreichung kräftiger Kost an solche Kinder, die einer Nachpflege bedürfen. Meist gewährt man in den F. nur 21, vereinzelt bis 30 Tage. In besondern Fällen behält man einzelne Kinder während zwei unmittelbar aufeinander folgenden Kurzeiten in Pflege. Während der Saison haben die Kolonien 3–6 Pflegezeiten. Für die Aufnahme findet am besten eine vorläufige Auswahl durch die Lehrer statt, die endgültige Entscheidung gebührt dem Arzte, der die Kinder 4–6 Wochen und dann 8 Tage vor der Reise besichtigt, zuerst um eine engere und dann um eine definitive Auswahl zu treffen. Als sehr erwünscht zeigt sich das Zusammenwirken mehrerer Vereinigungen, um Kolonisten auszutauschen, damit jeder an die für ihn geeignetste Stelle (Gebirge, See) kommt.

Bei der Abreise sind die Kinder durchgehends zu leicht, die jüngern um etwa 10 Proz., die ältern nahezu um 18 Proz. Bis zum Alter von 11 Jahren werden die Kinder in der Pflege durchschnittlich 1,5 kg, die 12–14jährigen durchschnittlich 2 kg schwerer, doch ist bei den jüngern Kindern die Zunahme relativ größer als bei den ältern. Im allgemeinen wird durch Sommerpflege in geschlossenen Kolonien das Kind um 1/2-2/3 Jahr in seiner Körperentwickelung gefördert. Dabei wird die Gewichtszunahme der Pfleglinge durch Verlängerung der Pflegedauer von 3 auf 4 Wochen nicht merklich beeinflußt. Über die Erfolge der Milchstationen sprechen sich die Berichte sehr günstig aus. In den Wintermonaten kommen Schulversäumnisse wegen Krankheit bei den verpflegt gewesenen Kindern in weit minderer Zahl vor als bei Kindern von gleichem Gesundheitszustand, die nicht in Sommerpflege gewesen waren. Bei gepflegten Kindern wurde in den Monaten September, Oktober, November in Mainz bei 40,5 Proz. ein Rückgang, bei 17,2 Proz. ein Stillstand und bei 42,3 Proz. ein Fortschreiten in der Gewichtszunahme festgestellt. Letzteres war nur bei ältern Kindern eingetreten und bei Mädchen erheblich stärker als bei Knaben. Am dankbarsten erweist sich die Pflege bei durch erbliche Belastung und äußern Habitus der Anlage zur Lungenschwindsucht Verdächtigen. Spitzen- und Bronchialkatarrhe verschwinden leicht. Manche Pfleglinge zeigen später große Widerstandskraft gegen vielfache Infektionsgefahr. Die ausgiebigsten Erfolge haben Rekonvaleszenten von schweren akuten Krankheiten, geringe dagegen Kinder mit Schulkopfweh und Mangel an Appetit und die an Entwickelungschlorose Leidenden. Die Gefahr, daß der Erfolg der kurzen Sommerpflege nicht ausreicht oder bald wieder verloren geht, hat mehrere Vereinigungen veranlaßt, eine Nachpflege zu organisieren. In Frankfurt a. M. behält man die Pfleglinge noch 2–3 Monate in Milchkurnachpflege. Im allgemeinen bleibt hier noch viel zu tun übrig. Nach dem Bericht der »Zentralstelle der Vereinigungen für Sommerpflege« wurden 1902: 39,004 Kinder verpflegt und dafür verausgabt 1,118,116 Mk., und zwar a) in geschlossenen Kolonien: in Vereinspslegehäusern 7075, in fremden Häusern 9858, b) in Familien auf dem Lande: gegen Bezahlung 2636, in Freiquartieren 705, c) in Heilstätten: der Solbäder 4559, der Seebäder 1474, d) in Stadtkolonien 12,697. Vgl. Artikel »Kinderheilstätten« und Büsing, Die ersten 20 Jahre des Sommerpflegewesens in Deutschland (»Hygienische Rundschau«, 1897); Bergknecht, F. (Heft 2 der Schriften des sozialwissenschaftlichen Vereins in Berlin, Frankf. a. M. 1902).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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