Deutsche Verskunst

Deutsche Verskunst

Deutsche Verskunst. Das wichtigste Moment für den Versbau ist das darin befolgte rhythmische Prinzip. Das Wesen des metrischen Rhythmus besteht darin, daß Silben von größerm Gewicht mit solchen von geringerm Gewicht nach gewissen Regeln abwechseln. Bei der Auswahl dieser verschiedenartigen Silben kann nun die Metrik entweder die Unterschiede zwischen langer und kurzer Silbe zu Grunde legen, wie das in der griechischen und lateinischen Metrik geschieht, dann entsteht die quantitierende Versmessung. Es können aber auch die Unterschiede zwischen stärker und schwächer betonter Silbe maßgebend sein: daraus ergibt sich die akzentuierende Metrik. Dies ist die Art und Weise des deutschen, überhaupt des germanischen Versbaues. Doch kommt für den altdeutschen Vers daneben auch die Quantität in Betracht. Eine betonte lange Silbe kann einen ganzen Versfuß ohne Senkung füllen, so daß dann zwei Hebungen unmittelbar aufeinander folgen (z. B. Sîfrít gehéizen), während sonst im allgemeinen Hebungen und Senkungen (betonte und unbetonte Silben) miteinander abwechseln. Anderseits kann eine betonte Kürze mit folgender Nebensilbe zusammen metrisch die gleiche Geltung wie eine betonte Länge haben, so daß z. B. mittelhochd. sagen, klăgen als stumpfer (männlicher) Reim gilt. Ein gleichmäßiger Wechsel von einsilbiger Hebung und Senkung wird im Verlaufe des 13. Jahrh. mehr und mehr angestrebt. Das führte schließlich dahin, daß besonders im 15. und 16. Jahrh. in großen Gebieten der Kunstpoesie (vor allem im Meistergesang) die Verse nur nach der Zahl der Silben (Silbenzählung), ohne Rücksicht auf die sprachliche Betonung, gemessen werden. Es ist das Verdienst von Martin Opitz, wieder den regelmäßigen Wechsel von sprachlich betonter und unbetonter Silbe durchgeführt zu haben.

Weiter ist wichtig der Umfang der Verse und die Art ihrer Verbindung. Der altgermanische Vers war eine Langzeile, die durch einen Einschnitt (Cäsur) in zwei Hälften zerfiel (Halbzeilen). Diese Halbzeilen werden verbunden durch die sogen. Alliteration oder den Stabreim, d. h. das wichtigste oder die beiden wichtigsten Wörter der ersten Halbzeile haben in ihrer Hauptsilbe den gleichen Anfangsbuchstaben (Anlaut) wie das erste der beiden wichtigsten Wörter der zweiten Halbzeile (z. B. »Roland der Riese! am Rathaus zu Bremen«). Die Silbenzahl kann im altdeutschen Alliterationsvers sehr verschieden sein; doch muß jede Halbzeile mindestens zwei stark betonte Silben (Hebungen) und zwei schwächer betonte Silben enthalten. Eine Zusammenfassung dieser alliterierenden Langzeilen zu Strophen ist in den wenigen uns erhaltenen Resten deutscher Alliterationsdichtung nicht nachzuweisen. In der zweiten Hälfte des 9. Jahrh. findet unter dem Einfluß der lateinischen Hymnendichtung, auch wohl romanischer Volkspoesie, der Endreim an Stelle des Stabreims Eingang, um von da an bis zur Mitte des 18. Jahrh. die deutsche Dichtung ausschließlich zu beherrschen. Das erste größere Werk mit Endreim ist die Evangelienharmonie Otfrieds. Die Langzeile ist zunächst noch festgehalten; ihre beiden Hälften, deren jede jetzt regelmäßig vier Hebungen umfaßt, werden durch den Endreim miteinander verbunden. Zwei oder mehrere Langzeilen treten als Strophen zusammen. Nach dem 10. Jahrh. verschwindet jedoch die Langzeile; sie tritt erst in mittelhochdeutschen lyrischen und epischen Strophen, wie der Strophe des Nibelungenliedes, der »Gudrun«, wieder auf. Hier sind die Halbzeilen nicht mehr unter sich, sondern die Enden der ganzen, Zeilen durch den Reim gebunden. Anderseits löst sich die Langzeile bei unverändeter Reimstellung in das aus zwei Kurzversen von je vier Füßen bestehende Reimpaar auf, ein Versmaß, das die Epik, Didaktik und Dramatik des 11.–16. Jahrh. beherrscht und später als »Knüttelvers« verspottet wird, bis es Goethe besonders in seinem »Faust« wieder zu Ehren gebracht hat. In der mittelhochdeutschen Lyrik kommen statt der zunächst herrschenden nationalen Versformen durch französischen Einfluß auch andre Versarten auf. Vom Auftreten Opitz' bis zur Mitte des 18. Jahrh. ist der dem Französischen entlehnte Alexandriner die in der ganzen deutschen Dichtung herrschende Versform, die jedoch im Deutschen eine Starrheit und Einförmigkeit erlangt, die ihr in ihrer Heimat fremd war. Nach der Mitte des 18. Jahrh. kommt im Drama der aus England stammende reimlose fünffüßige Jambus (s. Blank verse) auf; zu allgemeiner Anerkennung hat ihn Lessings »Nathan« gebracht. In der Lyrik werden die Strophenformen des Volksliedes, romanische und antike Strophenformen nachgebildet. In der Epik wird durch Klopstock und Voß der Hexameter eingebürgert und in Herders »Cid« der vierfüßige reimlose Trochäus der Spanier nachgebildet. Im 19. Jahrh. finden alle möglichen orientalischen Formen Nachahmung (besonders durch Rückert und Bodenstedt); auch der altdeutsche Stabreim lebt wieder auf, so in den Werken von W. Jordan und R. Wagner. Vgl. die »Metrik« (von Sievers und Paul) in Pauls »Grundriß der germanischen Philologie«, Bd. 2, Teil 1, S. 801ff. (Straßb. 1893); Sievers, Altgermanische Metrik (Halle 1893); F. Kauffmann, Deutsche Metrik (Marb. 1897); Minor, Neuhochdeutsche Metrik (2. Aufl., Straßb. 1902).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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