Volkszählungen

Volkszählungen

Volkszählungen, zum Unterschied von der mittelbaren Erforschung des Standes der Bevölkerung durch Schätzung und Berechnung (vgl. Bevölkerung, S. 788) die unmittelbare Auszählung aller Angehörigen eines Landes oder Landesteiles. Solche Zählungen sind schon im Altertum veranstaltet worden, so in Ägypten unter Amasis 500 v. Chr., dann in Israel unter dem König David (4. Buch Moses, daher »Numeri«); doch beschränkte man sich damals nur auf die Ermittelung der waffenfähigen Mannschaft. In Rom wurde schon seit Servius Tullius in der Regel alle fünf Jahr ein Zensus für militärische und Steuerzwecke (seit 443 v. Chr. durch die Zensoren) vorgenommen. Bekannt sind besonders die mit Vermögenseinschätzungen verbundenen V. unter Augustus. Aus dem Mittelalter sind nur vereinzelte V. in Stadtgemeinden (Nürnberg, Straßburg) bekannt. Für Ermittelung der Bevölkerung der damaligen Zeit können heute neben den freilich mangel- und lückenhaften Kirchenbüchern nur noch mittelbare Anhaltspunkte benutzt werden. Erst mit dem 18. Jahrh. werden in einigen größern Ländern Zählungen mit nachträglichen Revisionen an der Hand der Zivilstandsregister ausgeführt. So fanden in Schweden schon seit 1748 umfassende Aufnahmen statt, und 1749 wurde für den Zweck der V. eine eigne Tabellenkommission ins Leben gerufen. Mit der zunehmenden Anerkennung der Bedeutung der Bevölkerung für das Staatsleben und der Wichtigkeit einer zahlenmäßigen Feststellung derselben für die Verwaltung und die Wissenschaft hat der Staat das Volkszählungswesen in die Hand genommen, geordnet und zu einer regelmäßigen Aufgabe der amtlichen Statistik gemacht. Regelmäßig wiederkehrende Zählungen fanden statt in den Vereinigten Staaten von Nordamerika seit 1790, in England seit 1801, Frankreich seit 1801, Preußen seit 1816 (Zollverein seit 1834), Holland seit 1819, Sardinien seit 1838, Schweiz seit 1841, Belgien seit 1846. Heute finden sich periodische V. in nahezu allen Kulturstaaten. Dabei ist das Volkszählungswesen technisch immer mehr vervollkommt worden, wozu insbes. Quételet (s. d.) in Belgien und die Arbeiten des Internationalen statistischen Kongresses (s. Statistik, S. 868) beitrugen.

Bei Vornahme von V. kann man hinsichtlich der zu zählenden Bevölkerung drei Arten unterscheiden: a) die faktische (tatsächliche) oder ortsanwesende Bevölkerung; b) die Wohnbevölkerung; c) die einheimische oder rechtliche Bevölkerung. Unter der faktischen Bevölkerung ist die Summe jener Personen zu verstehen, die am Zählungsort zur Zeit der Zählung anwesend waren. Unter der Wohnbevölkerung begreift man jene Personen, die im Zählungsort gewöhnlich verweilen, also die faktische Bevölkerung mit Hinzurechnung der zur Zeit der Zählung nur vorübergehend Abwesenden und Abrechnung der nur vorübergehend Anwesenden. Unter der rechtlichen Bevölkerung wird jene verstanden, die im Zählungsort das Heimatsrecht, die Zuständigkeit besitzt, soweit eine solche neben der Staatsbürgerschaft überhaupt gesetzlich besteht. Die Kenntnis jeder dieser Arten der Bevölkerung hat für bestimmte Zwecke ihre Bedeutung, so die rechtliche für Wehrpflicht und Einkommensteuer, die Wohnbevölkerung für indirekte Besteuerung, Zollabrechnungen in Zollvereinsstaaten (Zollabrechnungsbevölkerung im deutschen Zollverein), die tatsächliche Bevölkerung für die allgemeine Kontrolle. Schwierig ist bei der heutigen Verkehrsentwickelung die Ermittelung der rechtlichen Bevölkerung, weil hierbei Abwesende zu berücksichtigen und die Angaben der Anwesenden richtig zu stellen sind; leichter ist die Zählung der Wohnbevölkerung, am leichtesten die der rein faktischen. Letztere wird in Deutschland sowie in den meisten andern Staaten gezählt, wobei jedoch neben der rein faktischen auch die Wohnbevölkerung durch Angabe der nur vorübergehend An- und Abwesenden ermittelt werden kann. Was den Umfang der V. anlangt, so dürfen aus praktischen Gründen nicht zu viele Fragen gestellt und diese nicht auf solche Gegenstände erstreckt werden, bei denen die Beantwortung mit Zweifeln zu kämpfen hat oder ein zu tiefes Eindringen in Familienverhältnisse erforderlich wäre. Die festzustellenden Tatsachen sind in erster Linie Name, Wohnort, Geschlecht, Geburtsdaten und Familienstand; daran können sich Ermittelungen über das Verhältnis der einzelnen zum Familienoberhaupt, Geburtsort, Wohn- und Heimatsort, Religionsbekenntnis, Staatsangehörigkeit, gewisse körperliche und geistige Gebrechen (Blindheit, Taubstummheit, Blödsinn etc.), Stand, Beruf, Erwerbszweig, Sprache, Bildungsgrad reihen. Doch genügt es und empfiehlt es sich, eine Reihe der in zweiter Linie erwähnten Fragen nur in größern Zeiträumen und durch gesonderte Zählungen zu erheben, so namentlich die auf die Berufsverhältnisse bezüglichen (s. Beruf). Als Zeit der V. soll eine solche gewählt werden, zu welcher der größte Teil der Bevölkerung sich zu Hause aufhält, und die Zählung mindestens alle 10 Jahre wiederholt und gleichzeitig (am gleichen Tage) vorgenommen werden. Fällt der Zähltag mit dem 31. Dez. zusammen, so hat dies den Vorteil, daß die Altersgruppierung nach vollen Jahren erleichtert wird und die Zählung mit dem Abschluß der Zivilstandsregister zusammenfällt, andrerseits den Nachteil, daß um diese Zeit viele Personen von ihrem Wohnort abwesend zu sein pflegen. Alle 10 Jahre zählen: die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Holland, Belgien, Österreich-Ungarn, die Schweiz, Norwegen, Dänemark, Italien; alle 5 Jahre: Deutschland, Frankreich, Schweden; davon am 31. Dez. Österreich-Ungarn, Italien, Belgien, Schweden, Norwegen, Holland; am 1. Dez. Deutschland, Luxemburg, die Schweiz. Frankreich zählt am 12. April, Großbritannien am 5. April, die Vereinigten Staaten am 1. Juni. Die Durchführung der V. kann entweder durch die Verwaltung erfolgen, die zu dem Zweck eigne Agenten bestellt (so in Belgien, Frankreich, Großbritannien, den Vereinigten Staaten), oder man stützt sich auf die ausgedehnteste Mithilfe der Bewohner selbst, denen man die Ausfüllung der Erhebungsformulare überläßt, und wobei sich die Verwaltung auf die Kontrolle durch die Zählungskommission beschränkt (so im Deutschen Reich und in den größern Ortschaften von Österreich). Verwendet werden in der neuern Zeit mehr und mehr die Zählkarten (bulletins individuels), d. h. Formulare, die je eine Person umfassen, die strengste Individualisierung sowie Einfachheit in der Fragestellung und in der Beantwortung ermöglichen und bei der Bearbeitung des Materials als Auszählkarten benutzt werden können, während die Haushaltungslisten erst zerlegt werden müssen. Die Hauslisten oder Haushaltungslisten (bulletins de ménage), die noch meist angewendet werden, bilden dagegen in ihrer Zusammensetzung eine Gewähr für gewisse gegenseitige Kontrollen, doch können letztere dadurch geboten werden, daß die Karten durch Verzeichnisse ergänzt werden, welche die Haushaltungslisten ersetzen und über das Verhältnis der Familie oder des Haushalts Aufschluß geben. Die Verarbeitung (Aufbereitung) des Urmaterials erfolgt in einigen Ländern dezentralisiert, in andern zentralisiert. Im ersten Falle werden Auszählung und Summierung bereits für kleinere Gebiete (Gemeinden) durch die betreffenden Behörden besorgt (Österreich, Frankreich, Belgien, Holland) und die Resultate zum Zwecke der Zusammenstellung an die Zentralstelle gegeben, im zweiten Falle (Deutschland, England, Ungarn, Vereinigte Staaten etc.) geht das Urmaterial nach örtlicher Kontrolle und Revision unmittelbar an die statistische Zentralstelle. Vgl. E. Engel, Die Methoden der Volkszählung (Berl. 1861) und Die Aufgaben des Zählwerkes im Jahr 1880 (in der »Zeitschrift des königlich preußischen Statistischen Büreaus«, 1879); die betreffenden Teile der »Preußischen Statistik« und der »Statistik des Deutschen Reichs«; v. Scheel, Zur Technik der V. (in den »Jahrbüchern für Nationalökonomie«, 1869); Fr. Zahn, Die praktische Bedeutung der deutschen Volkszählung (ebenda, 3. Folge, Bd. 20, 1900).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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