Semiten

Semiten

Semiten. Mit diesem biblischen Namen (s. Sem) werden in neuern Werken über Völkerkunde diejenigen Völker des Altertums und der Neuzeit bezeichnet, bei denen die nahe untereinander verwandten semitischen Sprachen heimisch sind (s. die »Sprachenkarte«). Dieser wichtige Sprachstamm läßt sich in eine nord- und eine südsemitische Abteilung zerlegen. Zu dec fast erloschenen nördlichen Abteilung gehören die erst in neuerer Zeit durch die Entdeckung und Entzifferung der Keilinschriften aus Licht gezogenen Schwesterdialekte von Assyrien und Babylonien, das Hebräisch-Kanaanitische (d. h. das Hebräische mit dem Moabitischen, dem Phönikischen und dem Punischen der Karthager), endlich das Aramäische, ursprünglich die Sprache der semitischen Bergvölker, die sich als Handelssprache früh beinahe über ganz Vorderasien verbreitete und etwa vom 8. Jahrh. v. Chr. ab nach und nach alle vorgenannten Sprachen verdrängte. Zum Aramäischen gehören die Dialekte der Inschriften von Sendschîrli (8. Jahrh. v. Chr.) und von Nérab (7. Jahrh. v. Chr.), die irrigerweise früher als Chaldäisch bezeichnete Sprache der nichthebräischen Teile des Esra- und des Danielbuches im Alten Testament und der jüdischen Targume, das Samaritanische, das Palmyrenische, das Nabatäische, das Syrische, der Dialekt des babylonischen Talmuds, das Mandäische u. a. (s. Aramäische Sprachen). Von allen nordsemitischen Sprachen sind heutzutage nur noch einige verderbte (aramäische) Volksdialekte der Nestorianer und Jakobiten und das Neuhebräische übrig, eine modernisierte Form des Hebräischen, die von den Juden teilweise als Schriftsprache gebraucht wird. Das Gebiet der nordsemitischen Sprachen wird jetzt größtenteils durch das Arabische eingenommen, die wichtigste Sprache der südlichen Abteilung, die in eine Fülle von untereinander ziemlich verwandten Mundarten zerfällt, von denen bis jetzt das Ägyptische (Kairinische), Syrische, Mesopotamische, Omân-Arabische oder Sansibaritische, Maghrebinische (Nordwestafrikanische). Maltesische, auch einige Dialekte der arabischen Halbinsel selbst genauer bekannt geworden sind. Nach Süden hin macht das Arabische noch immer Fortschritte und ist mit dem Islam weit bis nach Zentralafrika vorgedrungen. Auch die andre Hauptgruppe der südsemitischen Sprachen war in Arabien heimisch, jedoch im Süden der Halbinsel, in den Reichen der Sabäer und Minäer (s. Jemen), wo zahlreiche Inschriften gefunden worden sind; von dem Sabäo-Minäischen scheint das jetzige Mehri, Soqotri und Grâwi in Südarabien abzustammen. Schon früh müssen semitische Stämme Südarabiens über das Rote Meer gesetzt sein und Abesinien eingenommen haben; dort findet sich als Sprache alter Inschriften und der alten christlichen Literatur dieses Landes das nahe mit dem Sabäo-Minäischen verwandte Äthiopische, von dem die lebenden Sprachen Abessiniens, Amharisch, Tigré nebst Tigriña und Harari, abstammen. Sämtlichen semitischen Sprachen gemeinsam ist außer einer großen Anzahl von Wörtern und Wurzeln die Regel, daß jede Wurzel aus drei (selten vier oder mehr) Konsonanten bestehen muß, die unverändert bleiben, während die dazugehörigen Vokale wechseln, um wechselnde grammatische Formen oder Beziehungen auszudrücken. So hieß in der aus der Vergleichung der semitischen Sprachen zu erschließenden semitischen Ursprache katala »er tötete«, kutila »er wurde getötet«, kâtil »Mörder« etc. Schon hierdurch allein unterscheiden sich die semitischen Sprachen total von den indogermanischen, in denen dieser Vokalwechsel fehlt. Ferner kennt das Semitische nur zwei allgemeine Zeitsphären (im Gegensatz zur Temporaunterscheidung im Indogermanischen), zwei Genera etc. Auf diese Weise haben alle Versuche, beide Sprachstämme miteinander zu vermitteln, bisher mit einem rein negativen Ergebnis geendigt. Dagegen besteht zwischen dem Semitischen und den ägypto-hamitischen Sprachen Nordafrikas (s. Hamiten) eine wenn auch entfernte, doch unbestreitbare Verwandtschaft, die namentlich in der Bezeichnung des weiblichen Geschlechts und bei den persönlichen Fürwörtern hervortritt. Die semitischen Sprachen stehen dagegen einander sehr nahe, weit näher als z. B. die einzelnen Familien des indogermanischen Sprachstammes. Die Kultur der noch ungetrennten S. muß niedriger gestanden haben als die der ältesten Indogermanen (s. d.), da ihnen z. B. ein Wort für »Stadt« fehlte. Eine berühmt gewordene allgemeine Charakteristik der S. hat Renan versucht; doch ist sein Urteil ungerecht und gewaltsam, wenn er den semitischen Völkern unter anderm alle politischen und kriegerischen Fähigkeiten abspricht und in ihrer Literatur und Kunst nicht nur das Drama und die Epopöe, sondern auch die Philosophie und überhaupt alle Wissenschaften, die Mythologie und die plastische Kunst völlig vermißt. Vgl. Renan, Histoire générale et systèe comparé des langues sémitiques (4. Aufl., Par. 1864); Hommel, Die semitischen Völker und Sprachen (Leipz 1881–83, Bd. 1); Nöldeke, Die semitischen Sprachen, eine Skizze (2. Aufl., das. 1899); W. Wright, Lectures on the comparative grammar of the Semitic languages (Cambridge 1891); Zimmern, Vergleichende Grammatik der semitischen Sprachen (Berl. 1898); Brockelmann, Semitische Sprachwissenschaft (Leipz. 1906, Sammlung Göschen) und Grundriß der vergleichen den Grammatik der semitischen Sprachen (Berl. 1907 ff., 2 Bde.); Möller, Semitisch und Indo germanisch (Kopenh. 1906, Teil 1); W. Robertson Smith, Lectures on the religion of the Semites (2. Aufl., Lond. 1894; deutsch von R. Stübe, Freiburg 1899); Curtiß, Ursemitische Religion im Volksleben des heutigen Orients (deutsch, Leipz. 1903). Ein großes Inschriftenwerk: »Corpus inscriptionum semiticarum«, wird seit 1881 von der Akademie der Wissenschaften in Paris herausgegeben.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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