Schlagfluß

Schlagfluß

Schlagfluß (Hirnschlagfluß, Gehirnschlag, Schlag, Apoplexia cerebri), der Symptomenkomplex, der nach einer plötzlich einsetzenden Störung der Gehirntätigkeit infolge Unterbrechung des Blutumlaufes in einem Gehirnteil auftritt. Am häufigsten erfolgt eine solche Unterbrechung in Gestalt einer im Bereich ihrer Ausdehnung die Gehirnsubstanz zertrümmernden Gehirnblutung (Blutschlag, A, sanguinea). In andern Fällen wird durch ein mit dem Blutstrom eingeschwemmtes Gerinnsel plötzlich ein Blutgefäß verschlossen (Embolie) und hierbei sofort funktionsunfähig; seltener erfolgt eine Gerinnselbildung in einem Hirngefäß (Thrombose) so plötzlich, daß hierdurch die Erscheinung des Schlagflusses entsteht. Die Gehirnblutungen erfolgen fast immer aus seinen Arterien und Kapillaren; sie sind teils durch Texturerkrankung der Gefäßwände (Arteriosklerose) oder der sie umgebenden Gehirnsubstanz, teils durch verstärkten Druck des Blutes gegen die Gefäßwand bedingt; oft wirken beide Faktoren zusammen. Häufig erfolgt die Blutung aus Miliaraneurysmen, d.h. aus kleinen Erweiterungen (von 1 mm und mehr Durchmesser) kleiner Hirnarterien, die sich anscheinend infolge arteriosklerotischer Entartung der Gefäßwand bilden und besonders zerreißlich sind. Besonders häufig bersten die Gefäße der großen Stammganglien des Gehirns und der innern Kapsel, in der die wichtigen Nervenfasern der willkürlichen Bewegung verlaufen und der Zerstörung ausgesetzt sind. Blutdrucksteigerungen, die den S. veranlassen können, werden erzeugt durch Zunahme der gesamten Blutmenge infolge reichlicher Zufuhr von Speisen und Getränken, zumal von Spirituosen und ähnlichen, die Herztätigkeit erregenden Getränken. Deshalb tritt der S. so oft, besonders bei ältern. an Arterienverkalkung leidenden Personen während langer und üppiger Mahlzeiten oder kurz nachher ein. Ebenso wird der Blutdruck in den Gehirngefäßen erhöht durch energische Ausatmungsbewegungen bei geschlossener Stimmritze, Bedingungen, die beim Stuhlgang, zumal bei Hartleibigen, sowie beim Heben schwerer Lasten, beim Spielen von Blasinstrumenten etc. gegeben sind. Auch bei Schrumpfniere ist der Blutdruck immer gesteigert und die Gefahr des Schlagflusses naheliegend. Am häufigsten kommt der S. im vorgeschrittenen Lebensalter vor, Männer werden häufiger vom S. befallen als Frauen. Wenn jüngere Individuen einen S. erleiden, so liegt sehr häufig eine frühzeitige, durch überstandene Syphilis erzeugte Arteriosklerose zugrunde. Die Blutungen bestehen bald aus zahlreichen, sehr kleinen und ganz dicht beieinander stehenden Ergüssen (kapillare Blutungen, Hämorrhagien, die zur roten Gehirnerweichung führen), bald bilden sie nur einen mehr oder weniger umfangreichen (hämorrhagischen) Herd. Bei umfangreichern Blutergüssen wird die Gehirnsubstanz zertrümmert, die nicht zertrümmerten Hirnpartien werden durch den Blutaustritt auseinander und gegen die Schädelwandung hingedrängt. Stirbt der Mensch nicht gleich während des Schlaganfalls (Apoplexie foudroyante), so wird das ergossene Blut allmählich resorbiert, und an Stelle des hämorrhagischen Herdes bildet sich schließlich eine gelblichbraune Narbe oder ein mit wässeriger Flüssigkeit gefüllter Hohlraum (apoplektische Cyste).

Der S. tritt bald ohne alle Vorläufer ein, bald sind solche vorhanden, wie Kopfschmerz, Blutandrang nach dem Kopf, Muskelschwäche, Aufgeregtheit, Gedächtnisschwäche, Ohrensausen und Sinnestäuschungen, Schwindel, Kriebeln und Taubwerden der Hände und Füße. Diese Symptome sind teils abhängig von der dem S. vorangehenden Blutüberfüllung des Gehirns, teils können sie Zeichen vorausgehender kleinerer oder langsam eintretender Blutungen sein. Der Schlaganfall selbst (Insultus apoplecticus) tritt blitzschnell ein, oder beginnt mit starkem Schwindel, Dunkelwerden vor den Augen, heftiger Beklemmung der Brust, Angstgefühl und Schwere der Zunge mit stotternder, lallender Sprache oder gänzlicher Sprachlosigkeit. Dabei schwinden die Sinne und das Bewußtsein; der Kranke (Schlagflüssige) fällt plötzlich, ohne sich helfen zu können, zu Boden, er hört, sieht und fühlt nichts mehr; alle Glieder oder nur die einer Seite sind lähmungsartig schlaff, das Atmen geschieht mühsam und schnarchend oder rasselnd und röchelnd; das Gesicht ist anfangs rot oder blaurot, oft einseitig verzerrt, die Augen stier und glotzend, die Pupille erweitert, die Augenlider lähmungsartig erschlafft, der Mand oft schief nach abwärts gezogen und mit Speichel und Schaum bedeckt; die Pulsadern des Halses und Kopfes klopfen heftig. Bei den verhältnismäßig häufigsten Blutaustritten innerhalb der Großhirnhemisphären wird der Kranke einseitig gelähmt (Hemiplegia) und stürzt nach der gelähmten Seite zu Boden. Auf der gelähmten Gesichtsseite bläht sich die nach der andern Seite herübergezogene und dadurch glatt erscheinende Wange bei jeder Ausatmung auf, und das Augenlid hängt herab. Meist sind auch die Schließmuskeln des Afters und der Blase gelähmt, so daß Stuhlgang und Harn unwillkürlich abgehen, oder die Blasenlähmung äußert sich durch Unmöglichkeit der Harnentleerung; in andern Fällen versagen die Schlingmuskeln. Die Körpertemperatur ist manchmal stark erhöht, im Harn kann Zucker erscheinen. Mit dem Verschwinden der allgemeinen Betäubung kehrt auch die Beweglichkeit der nicht direkt betroffenen Körperteile zurück, während nun die einseitige Lähmung (Hemiplegia) erst deutlich erkennbar wird. Auf der gelähmten Seite sind die Sehnenreflexe häufig von Anfang an, jedenfalls aber nach Schwinden der Bewußtlosigkeit gesteigert. Bei leichtern Schlagflüssen, zumal wenn der Sitz des Blutergusses an Stellen sich befindet, an denen nicht gerade für die Lebensfunktionen besonders wichtige Nerven ihren Ursprung nehmen (wie z. B. am Boden der vierten Hirnkammer), kann ein großer Teil obiger Symptome fehlen, so daß zuweilen nur eine kurze Bewußtlosigkeit, Schwerfälligkeit in der Bewegung dieser oder jener Extremität, Erschwerung der Sprache etc. vorhanden sind. Bei sehr kleinen kapillaren Blutungen im Gehirn sind die Symptome oft ganz unscheinbar. Die Dauer eines Schlaganfalls ist verschieden. Er tötet bisweilen in wenigen Sekunden oder Minuten, zieht sich andre Male auf mehrere Stunden hinaus und führt dann entweder ohne Wiederkehr des Bewußtseins zum Tod, oder er geht in relative, freilich meist durch bleibende Lähmungen getrübte Genesung über. Die Folgen eines Schlaganfalles sind unmittelbare, sog. direkte Herdsymptome, und mittelbare, d.h. Erscheinungen, die durch die Einwirkung des Herdes auf seine nächste Umgebung entstehen. Die unmittelbaren Symptome sind, weil auf Vernichtung des betreffenden Gehirn teils beruhend, unheilbar; die mittelbaren werden durch Druck des Herdes auf die Umgebung, durch gestörten Blutumlauf und wässerige Durchtränkung derselben erzeugt und verlieren sich allmählich. Lähmungen, die nach ca. einem halben Jahre noch fortbestehen, gehören zu den unmittelbaren, unheilbaren Symptomen, während die mittelbaren im Laufe dieser Zeit sich langsam bessern. Der Schlaganfall selbst erklärt sich durch »Fernwirkung« des Herdes auf das gesamte Gehirn, namentlich durch die starke Druckwirkung, unter der es steht; dieser Zustand endet, wenn er nicht zum Tode führt, in einigen Tagen. Der Schlaganfall wiederholt sich bisweilen im Verlauf der nächsten Tage noch ein- oder einigemal und vermehrt dann die Lähmungen oder führt tödlichen Ausgang herbei, oder er kehrt erst nach Monaten und Jahren wieder. In der Zwischenzeit befindet sich der Kranke manchmal anscheinend wohl, in andern Fällen verraten sich die Spuren der Erkrankung, bez. Zerstörung einer Stelle im Gehirn durch verändertes Aussehen und Benehmen, durch verminderte geistige Fähigkeit, mürrisches Wesen, dumpfe Kopfschmerzen, Schwindel, Schlaflosigkeit, Schmerzen, Einschlafen der Glieder, unsichern Gang etc.

Die Prognose des Schlagflusses ist ungünstig, besonders bei ältern Leuten, bei schon anderweit geschwächten und herabgekommenen Personen (Säufern), bei stärkerer Arteriosklerose, bei Schrumpfniere und bei sehr fettreichem Körper. Die Behandlung des Schlagflusses ist folgende: Man bringe den Kranken nach möglichst schneller Lösung aller einigermaßen fest anliegenden Kleidungsstücke (Halsbinde, Kniebänder, Schnürleiber, Beinkleider) in eine gut unterstützte Lage mit erhöhtem, unbedecktem Kopf und warm eingehüllten Füßen. Das Zimmer sei kühl und ruhig, frisch gelüstet. Bei starker Rötung des Gesichts und bei vollem, stark gespanntem Puls können örtliche und allgemeine Blutentziehungen nützen. Auf den Kopf werden kalte Umschläge (Eisblase) gelegt. Durch reizende Klistiere (Essig), heiße Fußbäder, Auflegen von Senfteigen auf die Waden etc. kann man das Blut vom Kopf abzuleiten suchen. Weiter ist Regelung der Stuhl- und Harnentleerung, peinliche Hautpflege zur Vermeidung von Aufliegen, bei Herzschwäche die Verabreichung von Reizmitteln nötig. Nach dem Anfall sind alle Schädlichkeiten, die Ursache des Schlagflusses sein können, streng zu vermeiden. Die Kost sei mäßig und leicht verdaulich, wenig gewürzt, erregende Getränke sind zu vermeiden. Man sorge für ein angemessenes Verhältnis zwischen Ruhe und Bewegung des Körpers, Vermeidung anstrengender Geistestätigkeit und seelischer Erregung, für zweckmäßige Lagerung im Bett, regelmäßigen Stuhlgang. Gegen die zurückbleibende Lähmung muß eine richtig geleitete, schonende Gymnastik der betreffenden Teile unter Zuhilfenahme des elektrischen Stromes angewendet werden.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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