Pĭëtismus

Pĭëtismus

Pĭëtismus (neulat.), eine krankhafte Form der Frömmigkeit (pietas), die, nach Umständen und Persönlichkeiten zu verschiedenen Zeiten verschieden gestaltet, bald in einseitigem Betonen einzelner Glaubenslehren, bald in überspannten und exzentrischen Gefühlen, bald in skrupulöser Ängstlichkeit, bald endlich in einem separatistischen Treiben ohne Maß und Ziel, immer in unruhigem und ungesundem Streben nach Heil und Gnade sich kundgibt. Eine epochemachende historische Bedeutung hat der P. erst in der evangelischen Kirche erhalten, während in der römisch-katholischen Kirche die Jansenisten, die Quietisten u.a. nur Analogien dazu bieten. Protestantischerseits machte sich der P. zunächst als wohltätiges Gegengift gegen die totale Stockung und Lähmung des religiösen Bewußtseins geltend, die unter der Herrschaft der Orthodoxie Platz gegriffen hatten. Anderseits zog der P. allenthalben einen des kirchlichen Gemeinsinns entbehrenden Subjektivismus groß. Der Separatismus, der ihm sonach im Blut sitzt, kündigt sich zuerst nur schüchtern an in der Konventikelbildung, die aus der reformierten Kirche Hollands, dort bereits unter Labadies (s. d.) Leitung den Weg der Separation beschreitend, in die reformierten Kirchen des Niederrheins eingedrungen ist; hier fand sie ihren eifrigsten Förderer an Tersteegen (s. d.). Der Name P. aber ist erst auf dem Gebiete der lutherischen Kirche Deutschlands entstanden. Was hier Spener (s. d.) mit dem redlichsten Eifer und noch mit hoher Mäßigung einleitete, das führten zahlreiche Schüler mit Leidenschaft und Parteieifer fort. Zunächst fanden die von Spener in seinem Haus veranstalteten Versammlungen (collegia pietatis), deren Hauptinhalt Gebet und Schrifterklärung bildeten, in andrer Form auch anderwärts Eingang, soz. B. in Leipzig, wo mehrere junge Dozenten, Paul Anton, J. K. Schade und Aug. Herm Francke (s. d.), seit 1686 sogen. Collegia philobiblica veranstalteten, d.h. exegetisch-praktische Vorlesungen, denen seit 1689 populäre Vorlesungen über das Neue Testament für Bürger und Studierende zur Seite traten. Hier kam auch der Parteiname der Pietisten auf, zunächst für die Besucher der Collegia philobiblica, die sich durch eine besonders eingezogene Lebensweise hervortaten. Die orthodoxe Leipziger theologische Fakultät, besonders Joh. Bened. Carpzov (s. d.), brachte es alsbald dahin, daß nach Speners Weggang von Dresden auch die obengenannten Dozenten Leipzig verlassen mußten. Francke ging später nach Halle, und dies ward nun der Hauptsitz der Pietisten (daher auch Hallenser genannt); hier wirkten neben Francke Joachim Iust. Breithaupt (s. d.) und Joachim Lange. Hatte Spener zur Umgestaltung der damaligen Theologie eingehendes Bibelstudium empfohlen, so wollten manche seiner Anhänger das ganze theologische Studium auf die Heilige Schrift beschränkt wissen, und Löscher, der gelehrteste und objektivste unter den Gegnern des P., konnte als ersten Charakterzug des P. den fromm scheinenden Indifferentismus in Sachen der Dogmatik bezeichnen. Das größte Gewicht legte der P. auf ein asketisches Leben; er erklärte den Tanz, das Spiel, den Besuch des Theaters, das Tragen kostbarer Kleider, mitunter sogar das Lachen, den Scherz, das Spazierengehen etc. für unerlaubt. Mit dieser Selbstkasteiung hing eine gewisse Verschiebung und Verdrängung des protestantischen Begriffs der Rechtfertigung durch den Glauben zugunsten der Lehre von der Buße, Bekehrung und Wiedergeburt zusammen. Wo letztere nicht vorhanden, da ist nach pietistischer Lehre weder richtige theologische Erkenntnis noch gesegnete Amtsführung möglich. Mit gleichem Eifer wurde die von den Pietisten aus der Apokalypse entnommene Lehre von dem Tausendjährigen Reich orthodoxerseits verworfen. Übrigens hielten die Pietisten grundsätzlich an dem kirchlichen Lehrbegriff fest.

Die von Spener angeregte Belebung des praktischen Christentums ist nicht ohne heilsame Früchte geblieben: zahllose Anstalten der Wohltätigkeit inmitten der Kirche, obenan die Franckeschen Stiftungen in Halle, die Bibelanstalt Cansteins (s. d.), sind durch den P. ins Leben gerufen, überhaupt die Gesichtskreise für die kirchlichen Aufgaben mannigfach erweitert worden. Auch die 1722 durch Graf Zinzendorf entstandene Brüdergemeine (s. d.) ist eine die Union der Konfessionen vorbereitende Tochter des P., und die Theologie selbst, namentlich die praktische, hat unter den Händen Speners und der bessern seiner Schüler manche Modifikationen erfahren. Halle ward, wie einst Genf, das Herz, dessen Schläge man durch alle evangelischen Lande fühlte. Nach allen Ländern Deutschlands berief man Prediger und Schullehrer aus Halle. Zu dieser innern kam auch die äußere Mission; mehrere Zöglinge Franckes gingen zu Anfang des 18. Jahrh. nach Ostindien (s. Mission, S. 899, 2. Spalte). In die Fußstapfen Speners und seiner nächsten Schüler traten später als Häupter des P.: Ch. B. Michaelis, der jüngere Francke, Freylinghausen, Rambach u.a. Aber die Einseitigkeit und das Schiefe der ganzen Richtung traten doch trotz persönlicher Ehrenhaftigkeit ihrer Anhänger immer mehr hervor, und bald war der P. wirklich das, was die Gegner schon lange ihm schuld gegeben, eine krankhaft überspannte, in Bekehrungsunternehmungen und Bußkrämpfen schwelgende, nicht selten auch zum hochmütigen Absprechen über die »Welt«, ja zur schnöden Heuchelei herabsinkende Richtung. Während der Herrschaft des Rationalismus und des Indifferentismus zog er sich in engere Kreise zurück und schien ganz erstorben zu sein, bis er im 19. Jahrh., durch die gewaltigen Zeitbewegungen gefördert, sich nochmals als moderner P. erhob. Eine begeisterte Vertreterin und Verbreiterin fand derselbe an der Frau v. Krüdener (s. d.). Es entstanden die frommen Konventikel, Kassen zur Verbreitung von Traktätchen und Vereine für Belebung der innern und äußern Mission, die in Opferfreudigkeit, aber auch in Vielgeschäftigkeit wetteiferten, sich hin und wieder, wie in Königsberg 1835 (s. Ebel 2), mit schwärmerischer Mystik verbanden oder, wie im Elberfelder Waisenhaus 1861, in eine Erweckungsepidemie ausarteten. Berlin, Halle, das Mulde- und Wuppertal, dann Württemberg waren die Plätze, wo dieser moderne P. die zahlreichsten Anhänger fand. Durch seine Vorliebe für die alten Formen des Kirchenglaubens und seine Opposition gegen den Rationalismus wurde der P. ein natürlicher Verbündeter der wieder auflebenden Rechtgläubigkeit, und beide Richtungen, die sich früher bekämpft hatten, söhnten sich nunmehr aus, um infolge der politischen und sozialen Stürme der Jahre 1848 und 1849 das Übergewicht in der evangelischen Kirche Deutschlands zu erringen. Verwandt sind den deutschen Pietisten die Mômiers (s. d.) in der Schweiz und die Methodisten (s. d.) in England. Vgl. Märklin, Darstellung und Kritik des modernen P. (Stuttg. 1839); Hüffell, Der P. geschichtlich und kirchlich beleuchtet (Heidelb. 1846); H. Schmid, Geschichte des P. (Nördling. 1863); Heppe, Geschichte des P. und der Mystik in der reformierten Kirche (Leiden 1879); Ritschl, Geschichte des P. (Bonn 1880–86, 3 Bde.); Sachsse, Ursprung und Wesen des P. (Wiesbad. 1884); Renner, Lebensbilder aus der Pietistenzeit (Brem. 1886); Hübener, Der P., geschichtlich und dogmatisch beleuchtet (Zwickau 1901); Hadorn, Geschichte des P. in den schweizerischen reformierten Kirchen (Konstanz 1901).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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