Lähmung

Lähmung

Lähmung (Paralysis), aufgehobene Leistungsfähigkeit muskulöser oder nervöser Organe; die nicht vollkommene L., also die nur herabgesetzte Leistungsfähigkeit, bezeichnet man als Parese. Im gewöhnlichen Leben und bei den ältern Ärzten wird das Wort L. jedoch in einem viel weitern und unbestimmtern Sinne gebraucht, nämlich für jede Art von aufgehobener oder verminderter Tätigkeit irgend eines Teiles am lebenden Körper überhaupt. In diesem Sinne spricht man z. B. noch von einer Lungenlähmung, wenn die Lunge nicht mehr der Atmung dienen kann, weil ihre krankhafterweise mit einer wässerigen Flüssigkeit erfüllten Luftbläschen keine Luft mehr aufnehmen können, oder von einem gelähmten Arm, wenn dieser wegen Schmerzen oder Gelenksteifigkeit nicht bewegt werden kann, obschon seine Muskeln und Nerven an sich noch funktionsfähig sind. Die L. im engern wissenschaftlichen Sinn tritt als Empfindungslosigkeit, Gefühlslähmung (anaesthesia) oder als Bewegungslosigkeit (L. im engsten Sinne, paralysis, akinesia) auf. Von der Empfindungslosigkeit können außerdem die Gefühlsnerven, auch der Sehnerv, der Gehörsnerv, die Geruchs- und Geschmacksnerven betroffen werden; sie büßen dann das Vermögen ein, die spezifischen Empfindungen, die sie für gewöhnlich zu vermitteln haben, uns zum Bewußtsein zu bringen. Die Ursache der L. kann eine sehr verschiedene sein. Entweder sind die zentralen Nervenzellen des Gehirns, die den Sitz der Empfindung und der Bewegungsimpulse darstellen, erkrankt oder funktionsunfähig oder die Leitung des vom Gehirn und Rückenmark ausgehenden Bewegungsimpulses in den Bewegungsnervenfäden ist behindert und aufgehoben, z. B. durch Druck einer Geschwulst auf den Nerv, durch mechanische Trennung des Zusammenhangs des Nervs, oder es fehlt der zum Zustandekommen mancher Muskelkontraktionen erforderliche Anstoß von gewissen Empfindungsnerven aus: die sogen. Reflexlähmung, oder endlich das Muskelgewebe selbst ist bei sonst normaler Beschaffenheit des Nervensystems durch krankhafte Vorgänge, die in ihm stattfinden, zur Zusammenziehung unfähig geworden: myopathische L. im Gegensatz zu der vorhin angeführten neuropathischen L. Das Bild der L. gestaltet sich im konkreten Falle je nach dem davon ergriffenen Teil sehr verschieden; ebenso die Symptome der L. je nach dem Sitz der lähmenden Ursache im Gehirn (cerebrale L.) oder im Rückenmark (spinale L.) oder im Verlauf eines Nervenstammes (peripherische L.) im einzelnen Fall. In der Regel kann der Kranke das gelähmte Glied willkürlich gar nicht bewegen, wohl aber bewegt es sich lebhaft auf Reflexreize (z. B. bei der sogen. Schüttel oder Zitterlähmung, paralysis agitans) oder auf elektrische Reize, vorausgesetzt, daß das Muskelgewebe noch nicht sekundär entartet ist. Durch Nervenerkrankung gelähmte Muskeln verfallen einem sehr raschen Schwund, wenn sie (durch Schädigung des peripheren Nervenstammes) von bestimmten, ihre Ernährung beeinflussenden Nervenzellen des Rückenmarks abgetrennt sind, sie zeigen dann Entartungsreaktion (s. d.) und sind schlaff, das gelähmte Glied schlottert (schlaffe L.); sitzt die Erkrankung zentralwärts von diesen Rückenmarkszellen, zwischen diesem und dem Gehirn, so ist der Muskelschwund gering, Entartungsreaktion fehlt, die für den Willen gelähmten Muskeln ziehen sich auf Beklopfen, bei mechanischer Dehnung zusammen, das gelähmte Glied ist steif (spastische L.). Wieder anders geartet sind gewisse Mischformen von neuropathischer und myopathischer L., wie die spinale Muskelatrophie. Hier erkranken gleichzeitig unter dem Zeichen des Schwundes die Muskelfaser und die dazugehörigen Nervenelemente, also die motorische Nervenzelle im Rückenmark und die verbindende Nervenfaser. Es zeigt sich langsam fortschreitender Schwund im vordern Rückenmarksgrau und in der Muskulatur, die infolgedessen einer bis zur L. fortschreitenden Schwäche verfällt. Am häufigsten befällt diese Krankheit, die auch familiär auftritt, die Muskeln des Schultergürtels und der Hand, bez. die dazugehörigen Teile des Halsrückenmarks. Bei der progressiven Muskeldystrophie ist das Muskelgewebe allein Sitz der Krankheit; hier werden die Muskelfasern langsam durch Fett- und Bindegewebe ersetzt, oft unter so reichlicher Wucherung des Ersatzgewebes, daß eine scheinbare Muskelhypertrophie (Pseudohypertrophie) eintritt. Schwäche und L. ausgedehnter Muskelgebiete ist die Folge. Einseitige Lähmungen (oft falsch als halbseitige L. bezeichnet), d.h. Lähmungen, die nur die eine Seite des Körpers, und häufig dann am Rumpf die rechte, am Kopf die linke Körperhälfte, oder umgekehrt (gekreuzte L.), betreffen, haben ihre Ursache meist in einer Störung des großen Gehirns. Andre Lähmungen betreffen nur die untere Körperhälfte (Querlähmung, paraplegia) und haben ihren Ausgangspunkt gewöhnlich im Rückenmark. Lähmungen, die plötzlich auftreten (meist einseitige Lähmungen), bezeichnet man gewöhnlich als Schlagflüsse. Diejenigen Momente, die L. verursachen können, sind sehr verschiedener Art: bald sind es krankhafte organische Veränderungen in der Substanz des Gehirns, des Rückenmarks oder der Nervenstämme, wie bei Entzündungen, Blutaustritten, Druck von Geschwülsten, Erweichung; bald sind es chemische, namentlich giftige Einwirkungen auf die genannten Teile (z. B. die L. infolge von Bleivergiftung, oder von Pfeilgift, von Muskarin), bald infolge von Blutaustritt aus erkrankten (z. B. atheromotös entarteten) Blutgefäßen, wie ein solcher beim Platzen eines Gefäßes bei alten Leuten infolge der z. B. durch starke Gemütsaufregung plötzlich maximal gesteigerten Herztätigkeit, bez. dem maximal gesteigerten Blutdruck statthaben kann, wodurch sich auch die nicht zu seltenen Todesfälle der alten Leute durch Schreck oder große Freude erklären. Eine häufige Geisteskrankheit, die sogen. Dementia paralytica, tritt als eigentümliche, den gesamten Körper nach und nach in ihren Bereich ziehende L. auf, zu der sich Blödsinn hinzugesellt, und die regelmäßig mit dem Tod endet. Sie beruht meist auf Hirnschwund und Verdickung der Hirnhäute. – Die essentielle Kinderlähmung tritt vorzugsweise, wenngleich nicht immer, bei Kindern auf, beginnt unter hohem Fieber, Kopfschmerz, Delirien, einer akuten Infektionskrankheit ähnlich, und führt zu dauernder schlaffer L. größerer oder kleinerer Muskelgruppen. Die Muskeln sind elektrisch nicht erregbar, sie verfallen raschem Schwund, die Empfindung der ergriffenen Arme oder Beine bleibt erhalten. Anatomisch liegt diesen Erscheinungen eine herdweise auftretende, von Bakterien verursachte Entzündung des Rückenmarks zugrunde, welche die vordern, die Bewegungsnerven beeinflussenden grauen Hörner betrifft; diese L. gehört demnach, wenigstens in den meisten Fällen, zu den Speziallähmungen. Über die Behandlung kann nur nach sorgfältiger Diagnose für jeden einzelnen Fall entschieden werden. Auch bei Erwachsenen kommt eine ähnliche, ebenfalls mit Fieber, Kopfschmerz, Erbrechen beginnende L. vor, die akute atrophische Spinallähmung der Erwachsenen; sie ist ebenfalls durch Rückenmarksentzündung bedingt, kann indessen leicht mit den Symptomen einer Nervenentzündung verwechselt werden. Verschieden hiervon, aber jedenfalls in naher Beziehung steht die akute aufsteigende Spinallähmung (Landrysche Paralyse), die vorwiegend junge Männer von 20–35 Jahren befällt. Sie beginnt mit Mattigkeit und mäßigem Fieber; es folgen alsdann reißende Schmerzen im Rücken und den Extremitäten, die zuweilen wochenlang andauern, worauf ziemlich plötzlich sich L. der Beine, alsdann der Armmuskeln, der Muskeln des Rumpfes, zuweilen der Hals- und Nackenmuskeln einstellt, so daß die Kranken sich nicht mehr bewegen können. Das Gefühl bleibt erhalten, ebenso die elektrische Erregbarkeit der Muskeln. Sehr oft tritt unter dem Fortschreiten der L. auf die Atmungsmuskulatur, besonders des Zwerchfelles, der Tod ein und zwar so schnell, daß in den schlimmen Fällen die Krankheit unter hohem Fieber in 8–14 Tagen abläuft. In leichtern Fällen kehrt allmählich die Brauchbarkeit der gelähmten Glieder zurück, und es kann volle Heilung erfolgen. Ein Symptomenkomplex, dessen letztes Hauptsymptom auf L. der Bein-, Arm- und besonders der Blasen- und Mastdarmmuskulatur beruht, ist die Rückenmarksschwindsucht (Tabes dorsalis, s. d.). In gewisser Beziehung dieser chronischen Krankheit ähnlich ist die spastische Spinalparalyse (primäre Seitenstrangsklerose, Tabes dorsal spasmodique). Diese Form der L. befällt vorwiegend die Beine, beginnt mit Schwäche und Steifheit derselben, da diese L. eben, wie der Name sagt, eine spastische ist. Es lassen also die Muskeln den Unterschenkel nicht schlaff herabhängen, sondern sie werden durch alle künstlichen Bewegungen, Druck, Klopfen, in einen Reflexkrampf versetzt, der das Bein in Streckung, den Fuß in Beugung bringt und jedem Versuch einer passiven Beugung einen Widerstand entgegensetzt. Meist zieht sich der Krankheitsverlauf über Jahre hin, zuweilen tritt unter geeigneter Behandlung durch prolongierte warme Bäder und galvanischen Strom Besserung oder gar Heilung ein. Nur ein wissenschaftlich gebildeter Arzt wird mit Erfolg die Heilung der L. unternehmen können. Den meisten und sichersten Erfolg darf man bei entsprechender Anwendung des elektrischen Stromes auf die gelähmten Teile erwarten. Außerdem werden Hautreize, Gymnastik, Massage, indifferente Thermen und innerlich Strychnin angewendet. Vgl. Erb, Handbuch der Krankheiten der peripheren cerebrospinalen Nerven (2. Aufl., Leipz. 1876); Leyden, Klinik der Rückenmarkskrankheiten (Berl. 1874–76, 2 Bde.); Eulenburg, Lehrbuch der Nervenkrankheiten (2. Aufl., das. 1878); Hertzka, L. und Krampf (Pest 1870); Remak, Über methodische Elektrisierung gelähmter Muskeln (2. Aufl., Berl. 1856); Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten (4. Aufl., das. 1905).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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