Kunst [1]

Kunst [1]

Kunst (von können) im weitesten Sinne des Wortes ist jede zur Vollendung gebrachte Fertigkeit und bezeichnet im Gegensatz zum Erkennen und Wissen die Gabe, das richtig Erfaßte mit Leichtigkeit und Sicherheit in Handlungen zu betätigen; zweitens ist K. im engern Sinne diejenige Fertigkeit, die allein wegen ihrer ästhetischen Gefühlswirkung geübt wird, wie die K. des Malens, Dichtens, Musizierens, Komödiespiels; endlich drittens (und dies ist der weitaus wichtigste Sinn des Wortes) ist K. nicht sowohl Ausdruck für ein subjektives Vermögen, als vielmehr für die objektiven Erzeugnisse dieses subjektiven Vermögens: K. ist alsdann die abstrakte Gesamtbezeichnung für die dauernden oder zu beliebiger Erneuerung fixierten Produkte des ästhetischen Schaffens; hierin, daß sie neue ästhetische Werte von bleibender Bedeutung schafft, liegt die Hauptaufgabe der K. Daher werden Künste, die nur oder doch ganz überwiegend in dem zweiten Sinn als subjektive ästhetische Fertigkeiten in Betracht kommen, ohne dauernde ästhetische Werke zu hinterlassen, wie die Tanzkunst oder die reproduzierenden Künste des Musikspiels, des Gesanges, der Rezitation und des Komödiespiels, nach allgemeinem Urteil niedriger eingeschätzt als Poesie, bildende K. und musikalische Komposition. Jedes produktive und reproduktive künstlerische Vermögen beruht auf Anlagen, die sich wohl durch Verstandeseinsicht und Übung lenken und erweitern, niemals aber wecken und zur Vollendung führen lassen: es ist letzten Endes auf die die Vorstellungstätigkeit begleitenden und leitenden Gefühle begründet, und die Fähigkeit ungehemmten, kräftigen und vielseitigen Gefühls ist sehr viel seltener anzutreffen und verkümmert viel leichter als die des gefühlsschwachen logischen Denkens. Das Gefühl steigert die intellektuellen Funktionen zu ungewöhnlichen Leistungen, läßt Werte erfassen, die der Verstand nicht begreift, beschleunigt den Ablauf der Vorstellungen und führt zu Kombinationen, die abseits vom Wege liegen. Diese in der Regel als Phantasie bezeichnete, von originellen Gefühlsimpulsen bestimmte Vorstellungsbetätigung des künstlerischen Vermögens weicht von dem logischen Verstandesdenken durchaus ab, ohne dessen Grundgebote zu verleugnen; auf ihr beruht der eminent produktive Charakter der höhern Künste, und wie diese sich in letzter Linie aus dem Gefühl entwickeln, so ist es zu begreifen, daß ihre entscheidende Wirkung auch wieder in Gefühlen besteht (s. Ästhetik).

Die K. im objektiven Sinne des Wortes stellt sich entweder die Aufgabe, das in der Natur, im Leben Vorgebildete neu zu erschaffen, oder neue Gebilde zu erzeugen, denen in der Natur nichts Ähnliches entspricht. Die Künste der erstern Art, die sich an ein Gegebenes anlehnen, heißen gebundene, die der letztern Art freischaffende Künste. Diese Tatsache, daß es Künste gibt, die mit der Natur nichts zu tun haben, zeigt bereits, daß es grundfalsch ist, die Nachahmung der Natur als maßgebendes Prinzip der K. hinzustellen; vielmehr ist es immer nur ein innerlich erschautes Leben, das der Künstler durch seine Darstellung (s. d.) nach außen wiedergibt; lehnt er sich in den gebundenen Künsten an die Natur an, so sind es doch nur ihre Grundzüge und Gesetze, nicht ihre zufälligen Erscheinungsformen, die er festhält; er ist daher auch hier Neuschöpfer, nicht Nachahmer des Lebens; er soll meiden, was den Charakter einer Neuschöpfung stört, niemals aber den Schein der Lebenswirklichkeit erstreben (s. Illusion). Erscheint es auf diese Weise notwendig, alle Künste unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt zu rücken und K. als Gesamtbezeichnung für die Erzeugnisse schöpferischer Neubildung des ästhetisch geläuterten innern Lebens aufzufassen, das nach außen (für Auge oder Ohr) wahrnehmbar gemacht ist, muß also ein prinzipieller Gegensatz zwischen gebundenen und frei schaffenden Künsten geleugnet werden, so kommt hinzu, daß die Grenze zwischen diesen und jenen fließend ist. Die wichtigsten der frei schaffenden Künste sind die Ornamentik und die Musik. Aber die Ornamentik lehnt sich gleichwohl häufig an Naturgebilde an (vgl. Haeckel, Kunstformen der Natur, Leipz. 1899–1904), und die Musik kann Geräusche, Schalle und andeutend auch Gesichtseindrücke des Lebens (man denke an Wagners Feuerzauber im »Ring des Nibelungen« u. ä.) wiedergeben. Anderseits entfernen sich die gebundenen Künste der Malerei, Plastik und Poesie oft sehr erheblich von der Natur; es läßt sich hier von der enggebundenen K. des Porträtmalers oder des naturalistischen Dichters bis zu den phantastisch-imaginären Schöpfungen eines Dante oder Böcklin eine höchst mannigfaltig abgestufte Entwickelungslinie verfolgen. Aber auch dort, wo sich der Künstler an die Natur binden muß, ist das eigentlich Künstlerische die Zutat aus seinem Innern.

Alle K kann außer dem, was sie unmittelbar darstellt, eine große Fälle mittelbar anklingender Vorstellungen und Gefühle in dem Aufnehmenden erwecken, die nicht selten erst das letzte Geheimnis des ästhetischen Eindrucks erschließen; zu dem unmittelbar Dargestellten tritt der assioziative Faktor, treten die symbolischen Obertöne und Ausstrahlungen hinzu. Begreiflicherweise sind diese symbolischen Erhöhungen und Steigerungen bei den frei schaffenden Künsten am größten. Die Gebilde der Ornamentik, so kunstvoll sie seien, bedeuten an und für sich oft wenig; die musikalischen Klänge und Melodien geben unsrer Seele meist keinen greifbaren Inhalt; und doch können uns beide derart entzücken, daß wir ihre Eindrücke immer wieder zu erneuern suchen; denn sie eröffnen dem Gemüt eine weite Perspektive und weisen über das unmittelbar Dargestellte hinaus in eine unendliche Ferne. Auch die gebundenen Künste lassen diesen indirekten Faktor der Darstellung zur Geltung kommen; der Dichter wie der Maler und Bildhauer rufen »das Einzelne zur allgemeinen Weihe«, auch sie genügen erst durch symbolische Tiefe und Weite höhern ästhetischen Ansprüchen. Aber es leuchtet doch ein, daß das, was sie unmittelbar bieten, daß der direkte Faktor der Darstellung inhaltreicher und wichtiger ist als in den frei schaffenden Künsten.

Von geringerer prinzipieller Bedeutung ist der weiterhin zu nennende Unterschied der unabhängigen und abhängigen Künste; jene schaffen Werke, die allein um ihrer selbst willen da sind, diese sind in den Dienst praktischer Lebenszwecke gestellt. So erscheinen die Tragödie, die Symphonie etc. als Erzeugnisse unabhängiger K., während sich die Baukunst, das Kunstgewerbe, die Gartenkunst und vollends die dekorativen Künste vorgeschriebenen Zwecken anbequemen müssen. Insoweit in den abhängigen Künsten die schöpferische Tätigkeit des Künstlers zum Ausdruck kommt, stehen sie an Wert den unabhängigen gleich; insoweit sie auf bloßer Verstandeseinsicht und mechanischer Fertigkeit beruhen, haben sie keinen ästhetischen Wert, verdienen alsdann also überhaupt nicht als Künste eingeschätzt zu werden.

Von entscheidender Bedeutung für Inhalt und Entwickelung der Künste sind ihre Darstellungsmittel. Während die bildende K. durch Formen und Farben im Raume, die Musik durch die Folge von Klängen in der Zeit wirkt, vermag die Poesie durch das dem Ohr oder indirekt im Schriftbild dem Auge sich darbietende inhaltreiche Wort zu allen Sinnen zu sprechen und zugleich die Welt der abstrakten Vorstellungen (wenigstens innerhalb gewisser Grenzen) zu durcheilen. Ist sie auf diese Weise den anderen Künsten an Ausdrucksfähigkeit weit überlegen, so kommt noch hinzu, daß sie durch Rhythmus und Reim an den Wirkungen der Musik Anteil gewinnen kann, und daß nur sie die bedeutsamste Erweiterung ihrer Darstellungsmittel durch die ästhetischen Apperzeptionsformen (s. d.) erfährt. Auf der andern Seite sind doch auch ihr unverrückbare Schranken gesetzt: sie kann auch bei höchster Ausnutzung ihrer Mittel dem Gesichtssinn niemals so deutlich greifbare Bilder darbieten wie die Malerei, und sie kann uns das Wallen und Wogen der Gefühle und Affekte niemals so innerlich zu verstehen geben wie die Musik. Jede K. soll die Grenzen achten, die ihr durch ihre Darstellungsmittel gezogen sind; Lessings strenge Scheidung der Poesie und bildenden Kunst (im »Laokoon«) bleibt eine kritische Tat von unvergänglichem Wert, wenn auch viele seiner Ergebnisse anfechtbar sind. Moderne Grenzüberschreitungen der sogen. Programmmusik werden trotz geistreicher Durchführung kaum dauernde Anerkennung finden. Bei den bildenden Künsten kommt bei Abschätzung der Darstellungsmittel insbes. auch das zu bewältigende Material in Betracht: plastische Werke, in Marmor, Ton, Holz oder Porzellan ausgeführt, wirken durchaus verschieden, und ein Gegenstand, der in dem einen Material künstlerisch bewältigt werden kann, paßt in der Regel nicht zu dem andern. Vollends abweichend sind die Darstellungsmittel der Malerei und Plastik, und nie ohne Nachteil sind die Eigentümlichkeiten der einen K. auf die andre übertragen worden. – Höchste Aufgabe alles ästhetischen Schaffens ist es, die Darstellungsmittel dem jeweils vorliegenden Stoff innerlich zu vermählen, Inhalt und Form in Harmonie zu setzen, dergestalt, daß jeder Zug der Formgebung Gefühle und Stimmungen weckt, die denen, die der Inhalt anregt, entsprechen. Genaueres hierüber s. in dem Artikel »Stil«; ferner s. die Artikel über die einzelnen Künste »Ästhetik, Darstellung, Idealisieren, Illusion, Schön, Symbol«. Über die bildenden Künste im engern Sinne, d. h. die Künste, welche die Erzeugnisse der schaffenden Phantasie durch Farben und plastische Formen zur Anschauung bringen, s. die Artikel »Architektur, Bildhauerkunst und Malerei«.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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