Kriebelkrankheit

Kriebelkrankheit

Kriebelkrankheit (Ergotismus, Kornstaupe, Antoniusfeuer, Fliegendes, Heiliges, Höllisches Feuer, Krampfsucht, ziehende Seuche), Vergiftung durch Mutterkorn, die meist durch Genuß von Getreide, das mit dem das Mutterkorn erzeugenden Pilze verunreinigt ist, selten durch ärztlich verordnetes oder behufs künstlicher Fehlgeburt eingenommenes Mutterkorn verursacht wird. Der Pilz ist am giftigsten zur Erntezeit, daher auch dann die meisten Epidemien, namentlich in Frankreich in der Sologne, in der Picardie etc., in Rußland, Norddeutschland, in der Lombardei etc. Die K. tritt hauptsächlich in zwei Formen auf: als brandige und als konvulsivische. Bei der brandigen Form (Ergotismus gangraenosus, Mutterkornbrand, Brandseuche) zeigt das erste Stadium, das etwa 2–7 Tage dauert, Schwindel, Unruhe, Schmerzen in den Gliedern, Ameisenkriechen (daher der Name K.), Erbrechen, Diarrhöe. Weiterhin zeigen sich die Vorläufer des Brandes, Schmerzen in den betreffenden Gliedern, Zehen, Fingern, Nase; diese schwellen an, zeigen mitunter Röte, sind aber kühl. Endlich tritt der Brand an den geschwollenen Teilen ein, und die brandigen Teile stoßen sich ab. Das begleitende Fieber ist ein typhusähnliches, dem der Kranke erliegt. Es kann jedoch auch Genesung erfolgen, wenn der Brand beschränkt bleibt oder sich begrenzt. Die konvulsivische Form zeigt sich in den Vorboten der ersten Form sehr ähnlich; das Ameisenkriebeln der Glieder geht aber nur in Gefühllosigkeit, nicht in Brand über; dafür stellen sich Krämpfe, Nervkrampf oder Tobsucht ein, denen der Kranke bald oder nach Wochen erliegt; auch Ausgang in Rückenmarksdarre oder in Verblödung kommt vor, seltener Heilung. Die Dauer der Krankheit beträgt 4,8–12 Wochen; nur in sehr starken Vergiftungsfällen verläuft sie innerhalb weniger Tage. Die Behandlung erheischt vor allem Entfernung des Giftes aus dem Körper bei sorgfältiger Vermeidung von fernerer Zufuhr. Mit warmen Bädern und sonstigen beruhigenden Mitteln (Chloralhydrat, Morphium etc.) bekämpft man die krampfhaften Erscheinungen. Zur Nachkur dienen frische Luft und kräftigende Diät. Die K. herrschte epidemisch und in der brandigen Form im 9.–13. Jahrh. in ganz Europa, besonders aber in Frankreich. Die Krankheit verlief meist tödlich, und die Genesenen boten wegen der Verstümmelung ihrer Glieder einen schaudervollen Anblick dar. Seit dem 14. Jahrh. wird die Krankheit nicht mehr erwähnt, doch kam sie unter anderm Namen noch immer vor. Sie wurde nach dem heil. Antonius benannt, angeblich weil viele daran Erkrankte in der Kirche zu St. Didier la Mothe durch Anrufung jenes Heiligen genesen sein wollten (vielleicht durch gesundes, mutterkornfreies Brot, das die Mönche ihnen reichten). Vgl. Heusinger, Studien über den Ergotismus (Marburg 1856); Hirsch, Handbuch der historisch-geographischen Pathologie, Bd. 2 (2. Aufl., Stuttg. 1883).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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