Idĭotīe

Idĭotīe

Idĭotīe (Idiotismus, griech.), der Zustand des höchsten Grades von angebornem oder in früher Jugend erworbenem Blödsinn. Das Wesen der I. beruht im allgemeinen auf einer Entwickelungshemmung des Gehirns, der die mannigfaltigsten krankhaften Veränderungen der knöchernen Hülle (Schädel), der Häute und des Gehirns selbst zugrunde liegen. Jene Veränderungen können teils direkt durch Verletzungen vor, bei oder nach der Geburt, teils indirekt durch lokale Erkrankungen während der frühesten Entwickelungsepochen hervorgerufen worden sein, oder sie beruhen auf angebornen Bildungsfehlern im Zentralorgan mit seinen Hüllen. Unter den Ursachen der I. sind in letzterer Beziehung zu nennen: allgemeine Degeneration einer Familie, Geisteskrankheit, Trunksucht, Syphilis, seltener Tuberkulose der Eltern. Eine wesentliche Rolle spielen auch die Infektionskrankheiten im Kindesalter (Scharlach, Masern etc.). Gestalt und Umfang des Schädels sind bei den Idioten außerordentlich mannigfaltig, in die äußersten Extreme überspringend; doch tritt Mikrokephalie im ganzen häufiger auf als Makrokephalie. Von ersterer finden sich ganz minimale Verhältnisse bei sonst nahezu normalen Körpermaßen verzeichnet, und man gibt der frühzeitigen Verknöcherung der Nähte sowie der dadurch herbeigeführten Verengerung der im Knochen liegenden Kanäle für die aufsteigenden Ernährungsgefäße zum Gehirn die Hauptschuld; weniger häufig tritt Makrokephalie im ursachlichen Zusammenhang mit massenhafter Wasseransammlung in Höhlen und Häuten des Gehirns auf, da die Mehrzahl der mit solchen Entwickelungsfehlern Gebornen bald nach der Geburt sterben. Außerdem finden sich Anomalien des Längendurchmessers (Lang- und Kurzschädel), des Breitendurchmessers (Breit- und Schmalschädel), der Höhe (Spitz- und Flachschädel) und der Symmetrie (Schiefschädel, vorwaltend entwickelter Stirn- und Hinterhauptteil, eingesattelte und einseitig eingedrückte Schädel). Die Gehirnhäute können verdickt, mit dem Schädel oder der Gehirnoberfläche verwachsen, teilweise verknöchert, mit Fibroiden, Tuberkeln und andern Neubildungen besetzt sein; das Gehirn kann in seiner Konsistenz oder Textur total oder lokal verändert (erweicht, wassersüchtig, sklerosiert) sein. Jede einzelne dieser Anomalien kann sich mit der andern verbinden, und so gestaltet sich eine unendliche Mannigfaltigkeit der Formen. Auch der übrige Körper zeigt mannigfache Entwickelungshemmungen.

Das Wesen der I. ist in den verschiedenartigsten Fällen ein Schwächezustand aller Seelenvermögen: der Intelligenz, des Willens und des Gemütslebens, der teils schon von Geburt an, teils in der frühesten Kindheit in die Erscheinung tritt. Infolge der abgestumpften Empfänglichkeit für äußere Sinneseindrücke und sinnliche Wahrnehmungen kommen entweder gar keine Anschauungen oder Vorstellungen, oder nur sehr unbestimmte und korrumpierte oder rudimentäre zustande, und dementsprechend werden weder Begriffe noch Urteile gebildet; es gehen eben die erzeugten Eindrücke rasch wieder zugrunde. Hieraus entsteht Mangel an Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprech- und Sprachfähigkeit und an Produktivität. Bei dem tiefsten Grade der I. herrscht ein apathisches, ödes, unzugängliches Traumleben, in dem selbst die Sinnesorgane kaum die Eindrücke aufnehmen und nach innen vermitteln können. In gleichem Grad ist das Gemütsleben stumpf, wenn auch immer noch im allgemeinen empfänglicher als die intellektuelle Sphäre. Neigung zu verkehrten Handlungen mangels Ausbildung hemmender Vorstellungen, zur Lüge, zum Diebstahl, Verbrechen, Trunksucht etc. wird nicht selten beobachtet. Ebenso ist die Reaktionsfähigkeit abgestumpft, der Willensimpuls abgeschwächt, die beabsichtigten Bewegungen verlangsamt, unvollkommen, energielos oder auch dem Willen ganz entrückt, unzweckmäßig, automatisch. Idioten des niedrigsten Grades sind gleichgültig und reaktionslos gegen alles, was um sie her geschieht; der Geschmack und Geruch haben für sie keine Bedeutung, der Geschlechtstrieb ist meist ganz erloschen. Diesem Torpor der Sinnes- und Bewegungsorgane steht die Agilität und Versatilität andrer Idioten gegenüber, denen bei steter, anscheinend zweckmäßiger Beweglichkeit, Elastizität der Muskeln aller willkürlichen Bewegungsorgane und bei großer Volubilität der Zunge dennoch in den niedrigsten Graden dieselbe Unzugänglichkeit und Unempfindlichkeit für alle äußern Sinneseindrücke zukommt wie der torpiden Form, weil die Eindrücke hier zu flüchtig, wechselnd, blitzartig, oberflächlich sind, als daß dieselben wirklich zur Perzeption gelangen und haften bleiben können. Von dieser niedrigsten Stufe aufwärts gibt es eine unendlich verschiedene Staffel bis zum Schwachsinn (Imbezillität), vom bloßen Vermögen der einfachsten Wortformation bis zur zusammenhängenden Satzbildung, von der primitivsten Anschauung bis zu koordinierten Vorstellungsreihen, von der automatischen, trägen Bewegungsäußerung bis zur mechanischen Geschicklichkeit und nützlichen Verwendbarkeit (vgl. die idiotischen Rechenkünstler, Musiker und Maler mit hervorragender einseitiger Begabung), von der Gemütsstumpfheit bis zur kindlichen Anhänglichkeit und Liebe.

Hiernach gestaltet sich auch die äußere Erscheinung der Idioten, die bald plump, ungelenk, still im Winkel hocken, träumerisch den Blick ins Leere gerichtet, geifern, ihre Exkrete unter sich gehen lassen, die Fingernägel abkauen, die Haare auszupfen, die Kleider zerzupfen, bald unmotiviert umherspringen, tanzen, im Ringe sich drehen, trällern, lachen, laut aufkreischen, weinen oder plötzlich aus einer Ecke in die andre schießen, bald in monotonen Schaukelbewegungen den ganzen Oberkörper nach Art der Bären hin und her wiegen, einen Faden vor den Augen drehen, starr in die Sonne sehen, die gespreizten Finger vor den Augen auf und ab bewegen, alles betasten, belecken, beriechen, zerstören oder mutwillig umwerfen.

Die einzelnen typischen Formen der I., wie sie aus der Praxis herausgegriffen sind, können in folgende zusammengefaßt werden: Im allgemeinen herrscht wohl bei den Makrokephalen mehr der torpide, bei den Mikrokephalen mehr der agitierte (versatile) Typus vor. Eine besondere Art der Mikrokephalie ist der Aztekentypus, mit verschwindend niederm Schädeldach, zurücktretendem Stirnteil, vorstehenden Augäpfeln, scharf hervortretender, spitzer Nase und zurückweichendem, kleinem Kinn, so daß der Kopf dieser Art Idioten einem Vogelkopf ähnelt. Eine andre Form kommt vorwaltend bei dem breiten Plattschädel vor mit vorgedrängtem Stirnteil, tief eingedrücktem Nasenrücken, aufgestülpter Nase, breitem und vorstehendem Oberkiefer. – Als von der gesamten Konstitution abhängige Typen treten vornehmlich zwei Formen hervor, denen die lymphatisch-skrofulöse Konstitution zugrunde liegt. Die Idioten der einen Form zeichnen sich durch auffällige Kleinheit des ganzen Körpers wie auch des Schädels aus, haben hervorquellende Augen, kleines, stumpfes, aufgestülptes Näschen, aufgesprungene Lippen, dicke, zerfurchte Zunge, kahnförmig gewölbten, harten Gaumen, defekte Zähne, dünnen Hals, schmale, flache Brust, aufgetriebenen Unterleib, rachitisch gekrümmte, dünne Beine, rauhe, näselnde Stimme und sind beweglich, agil, stets munter, fahrig und possenhaft. Die Prognose ist schlecht. Die andre Form ist der Kretin, eine Komplikation der I. mit körperlicher Verunstaltung und plumpem Äußern, dessen Grundtypus in dem sogen alpinen oder endemischen Kretin sich ausspricht

Die Komplikationen der I. mit andern Krankheitszuständen sind ziemlich häufig und mannigfaltig; am häufigsten sind wohl Epilepsie und die ihr verwandte Chorea, Kontrakturen und Lähmungen einzelner Glieder, hysterische Krämpfe etc. Die Komplikationen, die speziell die Sinnesorgane betreffen, hängen zum größten Teil mit zentralen Störungen zusammen oder sind bedingt durch Konstitutionsanomalien, wie Skrofulose, Rachitis, hereditäre Syphilis, akute Exantheme. Hierher gehören Lichtscheu, Schielen, Nystagmos (Augenzittern), Augenwassersucht, schwarzer Star, Staphylom, En- und Ektropium, die Krankheiten des äußern und innern Ohres, Taubstummheit, Geruchsmangel; unter den Hemmungsbildungen sind Hasenscharte und Wolfsrachen zu erwähnen.

Die I. bietet ihrem Wesen nach eine sehr traurige Prognose für die Heilung, wenn auch vereinzelte Fälle von körperlichen Schwäche- und Ernährungszuständen nach vorausgegangenen akuten Krankheiten eine Ausnahme bilden dürften; allein sie ist manchmal dennoch besserungsfähig und bedarf deswegen immer der dringendsten Beachtung und pfleglicher Behandlung. Die Behandlung richtet sich nach dem Grade des Blödsinns und nach den Komplikationen und muß durchaus individualisierend sein. Sie kann aber nur in hierzu eingerichteten Anstalten (Idioten-, Blödenanstalten) mit besonders geschultem Personal von wirklichem Vorteil sein. Die Idioten gehören in Idiotenanstalten, deren Aufgabe ist, die I. durch direkten und indirekten Einfluß zu bekämpfen, die Idioten selbst gegen Reizungen, Unbilden und üble Beeinflussung zu schützen und vor tieferm Versinken zu bewahren, sie entsprechend zu nähren, die Kranken zu kräftigen und womöglich zu nützlicher Tätigkeit anzuleiten, vor allem aber die rudimentären geistigen Kräfte zu konservieren, auszubilden und der Norm möglichst nahe zu bringen. Dies geschieht durch Pflege, Erziehung und Unterricht. Da nun der ganze Zustand ein psychopathologischer ist, so sind vor allen Dingen die Irrenärzte berufen, die Leitung solcher Anstalten zu übernehmen und nach den Bedürfnissen der individuellen Krankheitszustände des Gehirns die Pflege wie die Erziehung zu überwachen.

In der Idiotenerziehung berühren sich die Aufgaben des Arztes und Pädagogen, und es war zuerst Karl Ferd. Kern, der sich als Taubstummenlehrer schon 1839 mit der Erziehung der idiotischen Kinder beschäftigte, später in der Erkenntnis jener Notwendigkeit selbst Medizin studierte und nach den Grundsätzen seiner Dissertation »De fatuitatis cura et medica et paedagogica consocianda« die von ihm gegründete, noch bestehende Anstalt in Möckern bei Leipzig bis zu seinem Tode (1868) verwaltete. Seitdem hat sich die Zahl der Idiotenanstalten von Jahr zu Jahr vermehrt, und gegenwärtig bestehen in allen Teilen Deutschlands dergleichen, teils aus reinen Privatmitteln, teils durch mildtätige Beiträge, teils auch auf der Basis staatlicher oder provinzialer Subvention gegründete Erziehungs- u. Pfleganstalten. Die ersten wirklichen Staatsanstalten dieser Art, deren oberste Leitung im engsten Anschluß an die daneben bestehenden Irrenanstalten einem Psychiater unterstellt ist, waren: Hubertusburg im Königreich Sachsen und Sachsenberg bei Schwerin. Vgl. Sengelmann, Systematisches Lehrbuch der Idioten-Heilpflege (Norden 1885); Sollier, Psychologie de l'idiot et de i'imbécile (Par. 1890; deutsch von Brie, Hamb. 1891); Voisin, L'idiotie (Par. 1893); Piper, Zur Ätiologie der I. (Berl. 1893); Hammarberg, Studien über Klinik und Pathologie der I. (Upsala 1895); Weygandt, Die Behandlung idiotischer und imbeziller Kinder (Würzb. 1900); Stritter, Die Heilerziehungs- und Pflegeanstalten für schwachbefähigte Kinder, Idioten und Epileptiker in Deutschland etc. (Hamb. 1901, Nachtrag 1904); Gerhardt, Zur Geschichte und Literatur des Idiotenwesens in Deutschland (Leipz. 1904); »Zeitschrift für Idiotenwesen« (Dresd. 1881 ff.), seit 1885 als »Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger« erscheinend. S. auch die Artikel »Heilpädagogik« und »Hilfsschulen«.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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