Hussiten

Hussiten

Hussiten und Hussitenkriege. Infolge der Verurteilung und Hinrichtung des Johann Hus (s. d.) in Konstanz steigerte sich die Aufregung und Bewegung in Böhmen auf das höchste. Die Anhänger Hus' im Adel schufen den Hussitischen Herrenbund, dessen Mitglieder sich verpflichteten, die freie Predigt des Evangeliums auf ihren Gütern zu schützen, der bischöflichen Gewalt nur insoweit Folge zu leisten, als dies mit den Anforderungen der Bibel nicht in Widerspruch stünde, und als höchste Instanz in strittigen Fragen nur die Universität anzuerkennen. Von diesem Bunde ging 2. Sept. 1415 das mit 452 Siegeln beschwerte Schreiben an das Konstanzer Konzil aus, in dem gegen das Vorgehen gegen Hus und gegen die Beschuldigung der Ketzerei Verwahrung eingelegt wurde. Entgegen dem hussitischen Herrenbund bildete sich der katholische Herrenbund, dem auch der König beitrat; das Konzil ernannte Bischof Johann »den Eisernen« von Leitomischl, einen der eifrigsten Gegner Hus' und eine der Hauptstützen des Katholizismus in Böhmen, zum apostolischen Legaten in diesem Lande; das Prager Domkapitel sprach über Prag das Interdikt aus; die katholischen Geistlichen wurden aus ihren Pfarren und Pfründen vertrieben; kurz, alles steuerte dem Bürgerkriege zu, um so mehr, als König Wenzel in seinem Wankelmute die widersprechendsten Maßregeln ergriff und sich erst auf die ernsten Mahnungen und Drohungen seines Bruders, König Siegmunds, zu ernsten Schritten entschloß. Wiederholt ereigneten sich 1419 Straßenaufläufe in Prag, und als eine hussitische Prozession 30. Juli von den katholischen Ratsherren und deren Anhang gehemmt und gehöhnt wurde, stürmte das aufgeregte Volk ins Rathaus und warf sieben Ratsherren zum Fenster hinaus in die bewaffnete Menge, die sie mit Lanzen und Spießen auffing. In diesen Wirren starb König Wenzel 16. Aug. 1419. In religiöser Hinsicht hatten sich unter den Hussiten zwei Parteien ausgebildet: 1) die gemäßigtere, die in den vier Prager Artikeln, die im Juli 1420 vereinbart und in lateinischer, tschechischer und deutscher Sprache verbreitet wurden (1. Freiheit der Predigt, 2. Spendung des Sakraments unter beiderlei Gestalt, 3. Rückkehr des Klerus zur apostolischen Armut und 4. Bestrafung von Geistlichen für Todsünden und dem göttlichen Gesetz zuwiderlaufende Unordnungen durch die weltliche Obrigkeit), ihr Programm verkündete; es waren die Prager, auch Kalixtiner oder Utraquisten genannt, 2) die Radikalen, auch Taboriten nach ihrem spätern Mittelpunkt, der von ihnen gegründeten Stadt Tabor, genannt, die durchaus auf den Stand der Bibel zurückkehren wollten, Beseitigung der bestehenden Hierarchie, Säkularisierung des Kirchengutes anstrebten; sie ersetzten die vier Artikel durch zwölf neue. Ihr Führer wurde Johann Zizka von Trocnow (s. Zizka).

König Siegmund, der Erbe Wenzels, betraute zunächst die verwitwete Königin Sophie mit der Regentschaft und kam erst Mitte Dezember 1419 nach Brünn, wohin er die böhmischen Stände zu einem Landtag berufen hatte, um dann von Januar bis April in Breslau zu verweilen. Die mittlerweile in Böhmen vorgefallenen Kämpfe zwischen Hussiten und Katholiken, das Überhandnehmen der erstern und zwar der radikalern Richtung der Taboriten und der Entschluß Siegmunds, die Ketzerei in Böhmen zu vernichten, alle diese Umstände ließen keinen andern Ausweg, als mit Kriegsmacht in Böhmen einzurücken. Er bewirkte von Papst Martin V. die Verkündigung eines allgemeinen Kreuzzuges nach Böhmen (Bulle vom 1. März 1420) und zog Anfang Mai 1420 mit stattlicher Heeresmacht ins Land, vermochte iedoch Prag nicht einzunehmen, erlitt am Zizkaberg eine schwere Niederlage und mußte endlich auch den Wyschehrad preisgeben (1. Nov. 1420). Die Anführer der Taboriten waren Niklas von Hussinetz und jener Zizka von Trocnow, und ihr Sieg gab das Signal zu grausamer Heimsuchung der deutschen Städte, von denen viele tschechisiert wurden, da der Hussitismus zugleich eine tschechisch-nationale Sache war.

Das Bemühen des Kaisers ging nunmehr dahin, den böhmischen Krieg zu einer Reichssache zu machen. Wiewohl der Eifer der deutschen Fürsten und Städte für diese Angelegenheit nicht groß war, zog ein deutsches Kreuzheer unter dem Markgrafen Friedrich dem Streitbaren von Meißen im August 1421 in Böhmen ein, bemächtigte sich einiger Städte (Komotau, Kaaden), wurde auch von einer zweiten Heeresmacht, die von Eger her gegen Saaz anrückte, unterstützt, allein auf die Kunde von Zizkas Nahen zogen sie sich wieder zurück. Im folgenden Jahr erlitt Siegmund eine furchtbare Niederlage bei Deutschbrod, womit der zweite Kreuzzug sein Ende hatte. Der dritte Kreuzzug in den Jahren 1422–24 verlief wegen Schwäche des Heeres und Uneinigkeit völlig belanglos, so daß im J. 1423 Zizka zum Angriff auf Mähren überging, das König Siegmund seinem Schwiegersohn, Herzog Albrecht L., abgetreten hatte. Doch starb Ziska auf dem Zuge nach Mähren 11. Okt. 1424. Seine Nachfolger waren die beiden Prokop, »der Große« und »der Kleine«, die in den nächsten Jahren sogar zum Angriff gegen die benachbarten deutschen Länder übergingen. Österreich, Schlesien, Sachsen und Franken hatten unter ihren Kriegszügen am meisten zu leiden. Im ganzen Deutschen Reiche rüstete man daher 1427 zu einem neuen Kreuzzug, dem vierten, der aber wiederum mit der Flucht des Kreuzheeres von Mies, das vergeblich belagert wurde, und Tachau endete, worauf die Hussiten ihre Plünderungszüge erneuerten. Man zählte über 100 Städte und Burgen und 1500 Dörfer und Weiler, die durch die Hussiten zerstört worden sein sollten. Unter diesen Umständen wurde 1431 zu Nürnberg ein neuer, der fünfte Reichskrieg beschlossen; aber die durch lässige Führung verursachte Niederlage seiner Truppen bei Taus 14. Aug. 1431 überzeugte den Kaiser von der Nutzlosigkeit einer Fortsetzung des Krieges und ließ es geraten erscheinen, den Weg von Verhandlungen mit den gemäßigtern Parteien der Hussiten zu betreten.

Siegmund lud daher zunächst die Vertreter der kalixtinischen Richtung, aber auch die Taboriten zu dem Konzil von Basel ein, das sich eben versammelt hatte. Eine große Gesandtschaft, an deren Spitze Johann Rokytzan, Prokop d. Gr. und der Taboritenbischof Nikolaus von Pilgram standen, erschien und disputierte mit den Vätern des Konzils. Obwohl es zu keiner Vereinbarung kam, so traten sich die Parteien doch näher, und das Konzil beschloß nach der Abreise der Böhmen, eine Gesandtschaft nach Prag zu senden, wo 30. Nov. 1433 ein böhmisch-mährischer Landtag auf Grund der vom Konzil amendierten vier Artikel die sogen. Böhmischen oder Prager Kompaktaten (s. d.) annahm. Da jedoch die Taboriten und Waisen die Kompaktaten nicht billigten, kam es zum Kampf mit den Kalixtinern unter oberster Führung Meinhards von Neuhaus, in dem die erstern allmählich erlagen. In der Schlacht bei Lipan (30. Mai 1434) siegte Bořek von Miletin über die beiden Prokop, die im Kampfe fielen. Die Partei der Waisen löste sich auf, die Taboriten sanken in ihrer Bedeutung. Nach neuerlichen längern Verhandlungen des Konzils mit den Kalixtinern wurden zunächst auf einem Landtage in Iglau (5. Juli 1436) die Kompaktaten feierlich verkündigt und zugleich die Wiederaufnahme der Böhmen in die katholische Kirche. Dann verpflichtete sich Siegmund in einem Manifest vom 20. Juli, die Kompaktaten zu halten, einen von den Böhmen ihm zur Seite gestellten Rat anzunehmen, niemand zum Wiederaufbau der zerstörten Burgen, Klöster etc. anzuhalten, allgemeine Amnestie zu geben, die Städte (die meist taboritisch gewesen waren) nicht zur Wiederaufnahme der ausgewanderten Deutschen oder zur Rückerstattung ihrer Güter zu nötigen, die Freiheiten und Rechte Böhmens zu achten und nur Tschechen in Böhmen öffentliche Ämter zu übertragen. Nun erst hielt Siegmund (23. Aug. 1436) seinen Einzug in Prag und empfing die Huldigung. Auch die Taboriten versprachen, Ruhe zu halten. Als aber Siegmund auffallend die Katholiken begünstigte und den katholischen Gottesdienst in Prag mit seinen Zeremonien wieder herstellte, erhoben die Hussiten auf dem Prager Landtag im September 1437 heftig ihre Beschwerden, auch hatten sich mehrere Adelige vom Kaiser bereits losgesagt, als er im Dezember 1437 starb.

Des Kaisers Erbe war der Herzog Albrecht von Österreich. Der Kanzler Schlick, schon vor Siegmunds Tode nach Prag gesandt, wußte zwar die katholischen und ulraquistischen Landherren für Albrecht zu gewinnen; aber die gegen letztern eingenommene tschechisch-hussitische Partei wählte unter Leitung Heinrich Ptačeks von Pirkstein aus dem vornehmen Haus der von Lipa und Georgs von Kunstat auf Podiebrad den elfjährigen Bruder des Königs Wladislaw von Polen, Kasimir, zum König (29. Mai 1438). Albrecht aber eilte mit einer kleinen Schar nach Prag, ließ sich daselbst krönen (29. Juni) und vertrieb mit einem aus seinen Erbländern und dem Reich aufgebotenen Heere die in Böhmen und Schlesien eingefallenen Polen. Nach Albrechts II. plötzlichem Tode (1439) waren die Böhmen anfangs noch weniger geneigt als die Ungarn, dessen nachgebornen Sohn Ladislaus Posthumus als König anzuerkennen. Die Utraquisten, die Kasimir fallen ließen, betrieben vielmehr unter Leitung Heinrich Ptačeks eine andre Wahl, die auf den Herzog Albrecht von Bayern von der Münchener Linie fiel. Als aber Kaiser Friedrich diesem von der Annahme der Wahl abriet, trugen die Stände jenem selbst die Regentschaft und bald darauf sogar die Krone an. Allein Friedrich lehnte beides ab und überließ es den Böhmen, ihr Reich bis zur Volljährigkeit Ladislaus' selbst zu verwalten. Die katholische Partei wählte darauf Meinhard von Neuhaus, die utraquistische Ptaček unter dem Titel von Kreishauptleuten zu Führern (1440–41). Aber diese gerieten bald miteinander in offenen Krieg, und da der letztere 1444 starb, so ernannten die Utraquisten an seiner Statt Georg von Podiebrad und Kunstat zum Ältesten oder Führer der Partei. Dieser riß sofort fast alle Gewalt an sich, wodurch die utraquistische Partei von neuem das Übergewicht erhielt, und wurde 1452 förmlich als Gubernator Böhmens anerkannt. Nach dem frühzeitigen Tode des Ladislaus Posthumus erhoben die Böhmen, alle anderweitigen Erbansprüche unberücksichtigt lassend, Georg von Podiebrad zum König (2. März 1458). Dieser wußte mit seinem Thron auch die den Utraquisten gewährte Religionsfreiheit zu behaupten. obgleich Kaiser und Papst erst im geheimen, dann als seine offenen Feinde an seinem Sturz arbeiteten und letzterer den Gebrauch des Kelches bei schwerer Strafe verbot, auch die Prager Kompaktaten geradezu aufgehoben haben wollte. Gleichwohl bestand auch unter Podiebrads Nachfolger, dem König Wladislaw von Polen, die böhmische Religionsfreiheit ungeschmälert fort und ward durch den Religionsfrieden von Kuttenberg (1485) ausdrücklich gewährleistet. Danach sollten die Kompaktaten in Geltung bleiben, Katholiken und Utraquisten gleichberechtigt sein und niemand wegen seines Glaubens behelligt werden. Auch auf dem Landtage des Jahres 1512 wurde für beide Konfessionen volle Gleichberechtigung ausgesprochen. Erst nachdem mit Ferdinand von Österreich 1526 das Haus Habsburg den böhmischen Thron bestiegen, ward mit mehr Erfolg das Werk der Gegenreformation in Angriff genommen und nach der verhängnisvollen Schlacht am Weißen Berge bei Prag (8. Nov. 1620) mit blutiger Gewalt vollendet. Der Name Hussiten verschwindet schon zu Podiebrads Zeiten. Hinsichtlich der weitern Schicksale der aus den alten Anhängern der Lehre Hus' hervorgegangenen akatholischen Religionsparteien in Böhmen vgl. Artikel »Böhmische Brüder«; s. auch Böhmen (Geschichte).

Literatur. Von den ältern Werken sind zu erwähnen: Cochläus, Historia Hussitarum (Mainz 1549); Cansdorf, Polemographia hussitica (Gieß. 1667); J. Leufant, Histoire de la guerre des Hussites et le Concile de Basle (Amsterd. 1731, für lange Zeit die maßgebende Darstellung). Eine wissenschaftliche, quellenmäßige Behandlung des Hussitismus knüpft sich an Palackys »Geschichte Böhmens«, Bd. 3 u. 4 (Prag 1845–60). Vgl. dessen »Urkundliche Beiträge zur Geschichte des Hussitenkriegs« (Prag 1872–73, 2 Bde.); Höfler, Geschichtschreiber der hussitischen Bewegung (Wien 1857–66, 3 Bde.); Krummel, Geschichte der böhmischen Reformation im 15. Jahrhundert (Gotha 1866) und dessen Abhandlung »Utraquisten und Taboriten« in der »Zeitschrift für historische Theologie« (das. 1871); Bezold, König Sigmund und die Reichskriege gegen die Hussiten (Münch. 1872–77, 3 Tle.) und Zur Geschichte des Hussitentums (das. 1874); Grünhagen, Die Hussitenkriege der Schlesier (Bresl. 1872); G. Frieß, Herzog Albrecht V. von Österreich und die Hussiten (Linz 1883); »Codex diplomaticus Lusatiae superioris«, Urkunden des Oberlausitzer Hussitenkrieges (hrsg. v. R. Jecht, Görlitz 1896–1904, 2 Bde.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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