Hausindustrie

Hausindustrie

Hausindustrie (Heimarbeit, Hausmanufaktur, Verlagssystem, Fabrique collective, Domestic system), diejenige gewerbliche Betriebsform, bei der die Arbeiter mit oder ohne Hilfspersonal in eignen Räumen (Wohnung, eigner Werkstätte) handwerksartig mit der Herstellung von Waren beschäftigt sind, die von Vermittlern (Großhändlern) übernommen und im großen vertrieben werden. Diese Vermittelung fehlt beim Hausfleiß (s. d.), sofern derselbe auch für den Verkauf arbeitet, ebenso bei den gewerblichen Nebenbetrieben, mit denen sich viele Bauern in der Bukowina, Ungarn, Rumänien etc. befassen, um ihre Erzeugnisse selbst auf Wochenmärkten der umliegenden Städte oder durch Hausieren zu vertreiben (darum von Mischler zum Unterschied von der H. im obigen Sinn als Hausgewerbe bezeichnet). Die hausindustrielle Tätigkeit kann ausschließlich Berufsarbeit oder nur ein Nebenerwerb sein, der dann zumeist mit der Landwirtschaft verbunden ist. Meist kommt die H. in der Form vor, daß ein größerer Unternehmer, der entweder nur »Fabrikkaufmann« oder auch Fabrikant ist und neben den Hausindustriellen noch Arbeiter in seiner Fabrik beschäftigt, den Arbeitern das Rohmaterial liefert, auch wohl die Hauptwerkzeuge gegen einen vom Arbeiter bezahlten Mietzins stellt, Art und Form der Produkte vorschreibt und für die fertigen den vereinbarten Stücklohn zahlt. Häufig wird der Verkehr zwischen ihm und den Arbeitern durch Mittelspersonen (Faktor, Fercher, Fabrikverleger) besorgt, die entweder nur im Auftrag des Unternehmers oder auch auf eigne Rechnung handeln, indem sie die Waren zum festgesetzten Stücklohn abnehmen, dem Unternehmer anbieten und etwaige Restbestände auf eigne Rechnung verkaufen. Seltener liefert der Arbeiter auch den Rohstoff (so bei der Holzschnitzerei, Strohflechterei), in welchem Falle der Unternehmer oft Vorschüsse oder Vorlagen macht (daher die Bezeichnung Verlagssystem). Meist ist die H. durch Umbildung aus dem Handwerk entstanden, indem der Vertrieb nach außen ganz in die Hand besser gestellter Genossen oder energischer Kaufleute überging, die leichter die Absatzverhältnisse erforschen konnten und, indem sie sich Privilegien zu verschaffen wußten, auch wohl die Verpflichtung zu regelmäßiger Beschäftigung der Arbeiter übernahmen, die frühere Handwerksverfassung mit der Zeit sprengten. Dann kam es vor, daß Fabrikanten Arbeit außerhalb der Fabrik vergaben und so eine H. schufen. Besonders wurde die Entstehung einer H. da begünstigt, wo bei unfruchtbarem Boden und kleinem Grundbesitz die Landwirtschaft keine ausreichende Beschäftigung bot. In jüngster Zeit hat man in Gegenden der letztern Art Hausindustrieschulen, namentlich für Korbflechterei und Holzschnitzerei, eingerichtet, die vielfach in Verbindung mit der Volksschule stehen (s. Industrieschulen).

Die Vorteile der H. bestehen der Fabrik gegenüber darin, daß sie dem Familienleben günstiger ist, die Verwendung aller Kräfte der Familie gestattet und den Arbeiter in der Art und Zeit seiner Beschäftigung unabhängiger stellt. Dagegen ist wegen der Schwierigkeit der Kontrolle eine übermäßige gesundheitsschädliche Verwendung von Kindern schwerer zu verhindern als in der Fabrik; dann ist, weil die Arbeiter nicht geschlossen auftreten, leichter eine Ausbeutung durch die Unternehmer, vornehmlich durch die Vermittler, möglich, zumal bei weniger günstigen Konjunkturen und bei Schwerbeweglichkeit der durch ein kleines Besitztum gebundenen Arbeiter. Am schlimmsten sind die Mißstände beim sogen. Sweatingsystem (s. d.). Die Niedrigkeit des Lohnes führt leicht zu allzu starker Anspannung der Arbeitskräfte und Verlängerung der Arbeitszeit, die Zersplitterung des schwer zu beaufsichtigenden Betriebes zu Veruntreuungen des Materials, Verschlechterung der Arbeit und so zur Gefährdung der Erwerbsquelle. Die Fabrik gestattet eine einheitlichere Leitung und wirksamere Disziplin. Sie ist der H. überall da überlegen, wo kostspielige Maschinen und eine ausgedehntere Arbeitsteilung zur Anwendung kommen. Dagegen kann die H. bestehen, wo die Arbeit wesentlich Handarbeit ist, allenfalls nur kleiner, billiger Maschinen bedarf, für die Ausführung besondere Fähigkeit erforderlich ist, die Arbeit oft unterbrochen werden kann oder muß und so eine Verbindung mit landwirtschaftlichen Arbeiten und auch eine unschädliche Verwendung von Frauen und Kindern gestattet.

In Deutschland hat die H. ihren Ursprung und Sitz zum weitaus größten Teil an den Abhängen und auf dem Gebirge des mitteldeutschen Berglandes, insonderheit in den Bezirken des oberrheinischen Gebirgssystems sowie im Riesengebirge, im Erz- und Fichtelgebirge, auf dem Thüringer Wald und dem Schwäbischen und Fränkischen Jura. Das Zentrum der H. ist das Königreich Sachsen. Nach O. hin ist die Leinen- und Baumwollindustrie in den Bezirken von Bautzen, Liegnitz, Breslau, nach W. die Strumpfwarenfabrikation sowie die Baumwoll- und Wollindustrie von Zwickau, Leipzig, den beiden Reuß und Sachsen-Weimar, in und um Erfurt und Schaumburg-Lippe auch die Leinenindustrie hauptsächlich vertreten. Thüringen hat vornehmlich Spielwarenindustrie und Korbflechterei; in den Regierungsbezirken Düsseldorf und Aachen am Niederrhein steht die Seidenbranche und die Verfertigung von eisernen Kurzwaren im Vordergrund. Holz- und Strohflechterei, Häkelei und Stickerei sind in Lothringen und Unterelsaß, Uhrenfabrikation u. Schuhmacherei im Schwarzwaldkreis, in Bremen Tabakfabrikation und in Berlin Bekleidungsindustrie vertreten. Bei der Berufszählung von 1895 wurden 457,984 (1882: 479,534) Hausindustrielle, darunter 44,1 Proz. weibliche Personen ermittelt. Jedoch ist die Zahl für 1895 wahrscheinlich etwas zu niedrig. Die wichtigsten Gewerbearten rücksichtlich der Zahl der beschäftigten Hausindustriellen waren nach der Gewerbezählung von 1895 die Schneiderei (mit 70,034 Hausindustriellen), die Näherei (38,456), die Baumwollweberei (33,206), die Wollweberei (27,871), die Stickerei und Wirkerei (27,760), die Schuhmacherei (26,539), die Leinweberei (26,378), die Seidenweberei (18,905), die Weberei von gemischten und andern Waren (17,317), die Tabakfabrikation (15,343), die Spitzenverfertigung und Weißzeugstickerei (14,372). (S. auch Gewerbestatistik.) Im Ausland ist die H. in größerm Umfang anzutreffen in den holzreichen Gebirgstälern von Südtirol, auf dem böhmisch-mährischen Hügelland, den Beskiden und Karpathen sowie auf dem siebenbürgischen Hochland, in Böhmen und auf dem Böhmerwald, in Österreich-Ungarn überhaupt, in der Schweiz (an den Abhängen der Alpen und in den Tälern des Juragebirges), in Frankreich, England, Rußland etc. Vgl. Schmoller, Geschichte des deutschen Kleingewerbes im 19. Jahrhundert (Halle 1870); Schriften des Vereins für Sozialpolitik: »Die deutsche H.« (Bd. 39–42 und 48, Leipz. 1889–91, und Bd. 84–88, das. 1899–1900; Bd. 39 enthält »Literatur, heutige Zustände und Entstehung der deutschen H.« von W. Stieda); Ziegler, Die sozialpolitischen Aufgaben auf dem Gebiete der H. (Hamb. u. Berl. 1890); Schwiedland, Kleingewerbe und H. in Österreich (Leipz. 1894, 2 Tle.) und Ziele und Wege einer Heimarbeitsgesetzgebung (2. Aufl., Wien 1903); Liefmann, Über Wesen und Formen des Verlags (der H.) (Freib. i. Br. 1899); »Bericht der k. k. Gewerbeinspektion über die Heimarbeit in Österreich« (Wien 1900–02, 3 Bde.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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