Gehirnabszeß

Gehirnabszeß

Gehirnabszeß, umschriebene Vereiterung der Gehirnmasse, entsteht: 1) infolge Verletzung der Schädelkapsel, wenn auch nicht jede Knochenzertrümmerung am Schädel zur Entwickelung eines Gehirnabszesses führt. Besonders häufig bildet sich der G., der immer in der Nähe des Ortes der Verletzung seinen Sitz hat, um einen in die Gehirnmasse eingedrungenen Fremdkörper, wie z. B. Knochensplitter, Geschosse, mitgerissene Teile der Kopfbedeckung etc. 2) Durch Fortleitung eiteriger Prozesse in die Schädelhöhle; so entsteht ein G. bei Kopfrose, bei Speicheldrüsenentzündung, bei eiteriger Phlegmone am Halse, besonders aber bei der nach lange dauernden Mittelohreiterungen oft entstehenden Karies des Felsenbeins, bei der sich dann zunächst eine umschriebene eiterige Entzündung der harten Hirnhaut entwickelt, die auf die zarte Hirnhaut und dann auf das Gehirn selbst (Schläfelappen oder Kleinhirn) übergreift. Zuweilen entsteht aber in diesen Fällen auch ein G. ohne Beteiligung der Hirnhäute. 3) Als metastatischer Abszeß, wie z. B. bei Pyämie, bei putrider Bronchitis etc., wobei es sich in der Regel um mehrere Abszesse handelt. 4) Bei dyskrasischen Krankheiten, wie bei Tuberkulose, Syphilis. Die Symptome des Gehirnabszesses ähneln denen der Gehirngeschwulst, von der ersterer sich aber durch das begleitende, manchmal allerdings fehlende Fieber unterscheidet. Im übrigen treten die Folgen des Hirndrucks am schärfsten hervor. Zuerst klagt der Kranke über Kopfschmerz, Mattigkeit, Apathie, schlechten Schlaf; bald tritt Benommenheit auf, auch die Stauungspapille kommt bisweilen vor. Der Kopfschmerz steigert sich bald bis zur äußersten Heftigkeit und wird meist bestimmt lokalisiert; Erbrechen tritt auf, der Kranke verfällt in ein anfänglich leichteres, bald aber schweres Koma oder in allgemeine Krämpfe. Diesen allgemeinen Symptomen stehen die Herdsymptome gegenüber, Erscheinungen, die auf der Funktionsstörung der durch den G. eingeschmolzenen oder durch seine Nachbarschaft geschädigten Gehirnteile beruhen. Solche Herdsymptome ermöglichen manchmal die im allgemeinen freilich sehr schwierige Feststellung des Ortes des Abszesses, von der die Möglichkeit eines chirurgischen Eingriffes abhängig ist. Hat der G. seinen Sitz in der motorischen Zone, so beobachtet man einseitige Lähmung, sind die tiefern Teile des Gehirns in Mitleidenschaft gezogen, so treten Sensibilitätsstörungen hinzu. Zuweilen wird die Diagnose des Sitzes dadurch möglich, daß die von der Gehirnbasis ausgehenden Nerven durch Druck geschädigt werden. Für den Sitz des Abszesses im Schläfelappen ist das Herdsymptom der gekreuzten Taubheit, für den Sitz im Hinterhauptlappen das der Hemianopsie (Ausfall derselben Seite des Gesichtsfeldes auf beiden Augen) charakteristisch. Abszesse im Stirnlappen machen häufig gar keine Symptome. Bricht der Abszeß durch die Hirnsubstanz durch, so entsteht eiterige Hirnhautentzündung; Durchbruch in die Hirnhöhlen hat in der Regel plötzlichen Tod zur Folge. Durch Abkapselung können Gehirnabszesse chronisch und latent werden, solchen Besserungen folgen jedoch nach einiger Zeit von neuem Verschlimmerungen. – Eine erfolgreiche Behandlung des Leidens kann nur im Aufsuchen des Abszesses nach vorausgegangener Trepanation bestehen und in Entleerung des Eiters nach erfolgter Eröffnung. Grundbedingung dieses Eingriffes ist die Möglichkeit einer genauen Bestimmung des Sitzes des Abszesses. Jede andre Behandlung kann nur symptomatisch sein und ist daher von vornherein so gut wie aussichtslos.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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