Freizügigkeit

Freizügigkeit

Freizügigkeit ist das Recht der freien, persönlichen und wirtschaftlichen Bewegung; das System des freien Zuges und der freien Niederlassung. Fast bis in die neue Zeit war der Umzug aus dem Gebiet des einen in das eines andern deutschen Staates namentlich in vermögensrechtlicher Beziehung mehrfach beschränkt (vgl. Abschoß). Gleiches galt für die Heimats- und Niederlassungsverhältnisse innerhalb der einzelnen Staaten, namentlich infolge der Engherzigkeit der Gemeindegesetzgebungen. Nur insofern hatte die deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 den Angehörigen der deutschen Bundesstaaten F. gesichert, als sie (Art. 18) bestimmte, daß diese das Recht haben sollten, Grundeigentum außerhalb des Staates, den sie bewohnten, zu erwerben und zu besitzen, ferner frei aus einem Bundesstaat in einen andern zu ziehen, der sie erweislich zu Untertanen annehmen wolle, ebenso das Recht, in Zivil- und Militärdienste eines andern Bundesstaates zu treten, sofern keine Verbindlichkeit zu Militärdiensten gegen das bisherige »Vaterland« im Wege stehen würde, endlich auch die Freiheit von Nachsteuer und Abschoß, insofern ein Vermögen in einen andern deutschen Bundesstaat überging. Das Recht des beliebigen Aufenthalts und der freien Niederlassung in einem jeden zum Deutschen Bund gehörigen Staat, also das Recht der F. im engern Sinne, stand den Bundesangehörigen nicht zu, sondern war im Art. 14 der Bundesakte nur den Standesherren eingeräumt. Staatsrechtlich galten die Angehörigen eines andern deutschen Bundesstaates als Ausländer.

In den einzelnen deutschen Staaten war der Zuzug und die Niederlassung von nicht heimatberechtigten Personen in den Gemeinden desselben Staates durch verschiedenartige Bestimmungen erschwert. Das Verdienst, auf diesem Gebiet freisinnigere Grundsätze zuerst zur Anwendung gebracht und die frühern engherzigen Bestimmungen beseitigt zu haben, gebührt der preußischen Gesetzgebung. Durch die beiden Gesetze vom 31. Dez. 1843 über die Aufnahme neuanziehender Personen und über die Verpflichtung zur Armenpflege wurde hier der Grundsatz der freien Niederlassung durchgeführt. Die Mehrzahl der übrigen deutschen Staaten, namentlich die Kleinstaaten, hielten dagegen an den bisherigen Grundsätzen fest, und erst der Norddeutsche Bund brachte zunächst für sein Gebiet den Grundsatz der F. zur Geltung, der in der Folge auf das ganze Gebiet des Deutschen Reiches ausgedehnt ward. Art. 3 der norddeutschen Bundesverfassung vom 26. Juli 1867 und der deutschen Reichsverfassung vom 16. April 1871 beseitigte durch Schaffung eines gemeinsamen Bundesindigenats die Schranken, die bisher die deutschen Staaten getrennt und sie im Verhältnis zueinander als »Ausland« hatten erscheinen lassen. Jedem Deutschen war die Befugnis gewährleistet, unter denselben Bedingungen wie der Inländer, also nach Maßgabe der Landesgesetzgebung, sich in einem fremden Staatsgebiet seinen Wohn- und Aufenthaltsort zu wählen. Die Verschiedenartigkeit der Landesgesetzgebungen über Heimat und Niederlassung bestand dagegen fort, bis sie durch die gemeinschaftliche Gesetzgebung beseitigt wurde.

Zunächst ist das nunmehrige Reichsgesetz über die F. vom 1. Nov. 1867 zu nennen, das im wesentlichen die preußischen Grundsätze auf die übrigen Bundesstaaten ausdehnte. Hiernach hat jeder Deutsche das Recht, innerhalb des Bundesgebiets an jedem Ort sich aufzuhalten oder niederzulassen, wo er sich eine eigne Wohnung oder ein Unterkommen zu verschaffen imstande ist, an jedem Ort Grundeigentum zu erwerben und Gewerbe zu betreiben. Der Reichsangehörige darf in Ausübung dieser Befugnisse weder durch die Obrigkeit seiner Heimat noch durch diejenige des Ortes, in dem er sich aufhalten oder niederlassen will, gehindert oder beschränkt werden; keinem Reichsangehörigen darf um des Glaubensbekenntnisses willen oder wegen fehlender Staats- oder Gemeindeangehörigkeit der Aufenthalt, die Niederlassung, der Gewerbebetrieb oder der Erwerb von Grundeigentum verweigert werden. Zur Abweisung eines Neuanziehenden ist eine Gemeinde nur dann befugt, wenn sie nachweisen kann, daß er nicht hinreichende Kräfte besitze, um sich und seinen nicht arbeitsfähigen Angehörigen den notdürftigen Lebensunterhalt zu verschaffen, und wenn er solchen weder aus eignem Vermögen bestreiten kann, noch von einem dazu verpflichteten Verwandten erhält. Dagegen berechtigt die Besorgnis vor künftiger Verarmung die Gemeinde nicht zur Zurückweisung. Übrigens ist es der Landesgesetzgebung anheimgestellt, diese Befugnis der Gemeinden zur Zurückweisung von Neuanziehenden noch mehr zu beschränken. Abgaben wegen des Anzugs dürfen nicht mehr erhoben, wohl aber können Neuangezogene nach dreimonatlichem Aufenthalt zu den Gemeindelasten herangezogen werden. Die Fortsetzung des Aufenthalts kann versagt werden, wenn sich nach dem Anzug die Notwendigkeit einer öffentlichen Unterstützung ergibt, bevor der Neuanziehende den Unterstützungswohnsitz (das Heimatrecht) an dem Aufenthaltsort erworben hat, und wenn die Gemeinde nachweisen kann, daß diese Unterstützung aus andern Gründen als wegen nur vorübergehender Arbeitsunfähigkeit notwendig geworden ist (s. Unterstützungswohnsitz).

Eine Beschränkung der F. kann ferner infolge der Polizeiaufsicht (s.d.) eintreten. Die höhere Landespolizeibehörde kann demjenigen, der auf Grund gerichtlichen Urteils unter polizeiliche Aussicht gestellt ward, den Aufenthalt an einzelnen bestimmten Orten versagen. Hierher gehören auch Bestimmungen des Reichsgesetzes vom 4. Juli 1872. Angehörige des im Deutschen Reiche verbotenen Ordens der Gesellschaft Jesu oder der ihm verwandten Orden oder ordensähnlichen Kongregationen können, wenn sie Ausländer sind, aus dem Bundesgebiet ausgewiesen werden; wenn sie Inländer sind, kann ihnen der Aufenthalt in bestimmten Bezirken oder Orten versagt oder angewiesen werden. Beschränkungen der F. ergeben sich ferner aus Rücksichten der Militärpflicht. – Unter militärischer F. versteht man die im Reichsmilitärgesetz begründete Befugnis jedes Reichsangehörigen, sich ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit und ohne besondere Erlaubnis bei jeder Ersatzbehörde im Bundesgebiet zu stellen und seiner Militärdienstpflicht bei jedem Kontingent zu genügen. – Unter juristischer F. versteht man den besonders seit Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches wieder rege gewordenen Wunsch, daß jeder Jurist, der in einem Bundesstaat die zweite juristische Prüfung abgelegt hat, in jedem andern Bundesstaat zum Richteramt, zur Staatsanwaltschaft und zur Rechtsanwaltschaft zugelassen werde. Mit Unrecht wird die Erfüllung dieses Wunsches von der gleichmäßigen Gestaltung der Prüfungsordnungen in allen Bundesstaaten abhängig gemacht; denn die einzige bisher bestehende Schranke war die Buntscheckigkeit des deutschen Rechts, und diese ist mit dem 1. Jan. 1900 gefallen. Vgl. Arnold, Die F. und der Unterstützungswohnsitz (Berl. 1872); Ausgaben der Reichsgesetze über F., Unterstützungswohnsitz und die Bundes- u. Staatsangehörigkeit von Krech (5. Aufl., das. 1901) und Grill (2. Aufl., Münch. 1901).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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