Fichte [2]

Fichte [2]

Fichte, 1) Johann Gottlieb, berühmter Philosoph, geb. 19. Mai 1762 zu Rammen an in der Oberlausitz als der Sohn eines Bandwebers, gest. 27. Jan. 1814 in Berlin, zeichnete sich als Knabe durch regen Geist und seltenes Gedächtnis aus, kam, 12 Jahre alt, auf die Stadtschule nach Meißen und bald nachher nach Schulpforta, bezog 1780 die Universität, zuerst Jena, dann Leipzig, um Theologie zu studieren, wurde aber bald zur Philosophie geführt und neigte sich dem entschiedenen Determinismus zu. Während seiner Studienzeit in Leipzig hatte er mit bitterer Not zu kämpfen. Von 1788–90 Hauslehrer in Zürich, wo er seine nachherige Gattin (seit 1793), Johanna Rahn, eine Nichte Klopstocks, kennen lernte, seit 1790 wieder in Leipzig, dann für kurze Zeit Hauslehrer in Warschau, warf er sich während mehrerer Jahre mit großem Eifer auf das Studium Kants, ging, um dessen persönliche Bekanntschaft zu machen, 1792 nach Königsberg und schrieb, um sich bei demselben würdig einzuführen, binnen vier Wochen seinen »Versuch einer Kritik aller Offenbarung« (Königsb. 1792, 2. Aufl. 1793). Diese Schrift war so ganz im Geiste der kritischen Philosophie, daß sie für ein Werk Kants gehalten wurde, bis dieser selbst den Verfasser nannte, empfahl und dadurch mit einemmal zum berühmten Mann machte. F. privatisierte hierauf einige Zeit in Zürich, verheiratete sich, hielt Vorlesungen, wurde mit Pestalozzi genauer bekannt und beteiligte sich unter dem Eindruck des benachbarten Frankreich u. der republikanischen Schweiz lebhaft (obgleich nur theoretisch) an der Politik. In den anonym erschien enen Schriften: »Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution« (Jena 1793) und die »Zurückforderung der Denkfreiheit, an die Fürsten Europas« (das. 1794) beurteilte er aus dem Freiheitsbegriff der Kantschen Philosophie den gegebenen Staat und trat für die Rechtmäßigkeit der französischen Umwälzung ein. Im Mai 1794 trat F. eine Professur in Jena an. Für seine (überaus erfolgreichen) Vorlesungen ließ er zwei Lehrbücher drucken, das eine, in Form eines Programms, war die Schrift »Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogen. Philosophie« (Weim. 1794, 2. Aufl. 1798), das andre enthielt das neue System selbst: »Grundlage und Grundriß der gesamten Wissenschaftslehre« (Jena 1794, 2 Tle.; 3. Aufl. 1802). Um auf die moralische Bildung der Studierenden noch direkter einzuwirken, eröffnete er im Wintersemester 1794/95 Vorlesungen »Über die Moral für Gelehrte« und veröffentlichte eine Schrift: »Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten« (Jena 1794). Als er aber auch das akademische Leben der Studenten reformieren wollte, verwandelte sich die ursprüngliche Begeisterung der Studenten für F. in solchen Haß gegen ihn, daß er, von der Regierung ohne Schutz gelassen, Jena im Sommer 1795 verlassen mußte und sich einige Zeit in Osmannstädt bei Weimar aufhielt. Außer vielen einzelnen Abhandlungen in Journalen erschienen von ihm damals die »Grundlage des Naturrechts« (Jena 1796, 2 Tle.) und das »System der Sittenlehre« (das. 1798), das als Gegenstück des Naturrechts zu betrachten ist. In dem »Philosophischen Journal« von Niethammer und F. (Bd. 8, Heft 1, Jena 1798) erschien ein Aufsatz von Forberg: »Entwickelung des Begriffs Religion«, wonach die Religion nur ein praktischer Glaube an eine mora lische Weltordnung sein sollte. F. hatte demselben eine einleitende Abhandlung: »Über den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung«, vorausgeschickt, deren Grundgedanke war: »Unser sittliches Handeln sei unmittelbar Glaube an eine Ordnung der Dinge, in der das Gute nur aus dem Guten hervorgehen könne, d. h. an eine moralische Weltordnung, und diese sei das Göttliche selbst«. Bald nach dem Bekanntwerden jener Aufsätze erschien ein anonymes Schriftchen u. d. T.: »Schreiben eines Vaters an seinen Sohn über den Fichteschen und Forbergschen Atheismus«, infolgedessen die kursächsische Regierung zu Dresden das »Philosophische Journal« verbot und in einem Requisitionsschreiben an den weimarischen Hof die Bestrafung der Herausgeber des Journals verlangt e, zugleich aber drohte, andernfalls ihren Untertanen den Besuch der Universität Jena zu verbieten. F., überzeugt, der Angriff sei nicht so sehr gegen den Atheismus als vielmehr gegen den freien Menschengeist gerichtet, schrieb die »Appellation an das Publikum. Eine Schrift, die man erst zu lesen bittet, ehe man sie konfisziert« (Jena u. Leipz. 1799). Der Herzog von Weimar, dem F. diese Schrift überreichte, wollte F. schonen und die Sache damit abmachen, daß er F. einen Verweis durch den akademischen Senat erteilen lassen wollte. F., davon in Kenntnis gesetzt, erklärte in einem Brief an den Kurator der Universität, den Geheimrat Voigt in Weimar, den Verweis nicht hinnehmen zu können, indem er zugleich anzeigte, daß er einen solchen mit Einreichung seiner Dimission beantworten werde. Schon 29. März gelangte ein Reskript an den akademischen Senat, das diesen beauftragte, F. und Niethammer einen Verweis zu erteilen, und zugleich bemerkte, daß man Fichtes Dimission annehme. F., der diese Wendung nicht erwartet hatte, versuchte eine Zurücknahme der höchsten Entschließung zu veranlassen, erhielt aber eine abschlägige Antwort. Im Juni 1799 ging er nach Berlin, wo man ihn auf die Entscheidung des Königs hin duldete. In die Zeit dieses ersten Berliner Aufenthalts, während dessen er viel mit Friedr. Schlegel, Schleiermacher, Tieck verkehrte, fällt die Veröffentlichung der Schriften: »Über die Bestimmung des Menschen« (Berl. 1800), »Der geschlossene Handelsstaat«, worin er die Ausführung seiner allgemeinen Staatslehre darzutun suchte, und »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters«, dargestellt in Vorlesungen, gehalten zu Berlin 1804–1805 (das. 1806), denen »Über das Wesen des Gelehrten« (das. 1806) folgte. Es waren dies öffentliche Vorlesungen, die er im Sommer 1805 in Erlangen (damals preußisch) gehalten hatte, wohin er als Professor berufen war, mit der Bestimmung, nur im Sommer daselbst zu lesen. Als bald darauf jene Katastrophe eintrat, die Preußens Macht ganz zu vernichten drohte, ging F., um nicht unter französische Herrschaft zu kommen, nach Königsberg und 1807 über Kopenhagen wieder nach Berlin. Als die Regierung den Entschluß faßte, in Berlin eine Universität zu errichten, wurde F. mit der Ausarbeitung eines Planes beauftragt, der später u. d. T.: »Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt« (Stuttg. 1817) gedruckt erschien, aber auf W. v. Humboldts und Schleiermachers Rat als unpraktisch zurückgelegt ward. Höchst einflußreich dagegen wirkte F. durch seine »Reden an die deutsche Nation, gehalten im Winter 1807 bis 1808« (Berl. 1808), in denen er darauf hinwies, daß das gesunkene deutsche Volkstum nur durch eine ganz neue Erziehung wiederherzustellen sei. Seit 1810 hielt F. als Professor an der neuen Universität Vorträge, als deren Früchte die Schriften: »Die Wissenschaftslehre in ihrem ganzen Umfang« (Berl. 1810) und »Die Tatsachen des Bewußtseins« (Tübing. 1817) zu betrachten sind. Beim Beginn des Befreiungskrieges, in den ersten Monaten des Jahres 1813, erbot sich F., das Hauptquartier als religiöser Redner zu begleiten, wurde aber abschlägig beschieden. Im Wintersemester 1813/14 hatte er seine Vorlesungen wieder angefangen, als seine vortreffliche Frau nach fünfmonatiger aufopfernder Krankenpflege vom Lazarettfieber befallen wurde. Sie genas; aber F., von derselben Krankheit ergriffen, erlag ihr.

F. war ein fester, unbeugsamer Charakter von stärkster Willens- und Tatkraft, voll des edelsten Enthusiasmus, konsequent in seinen Ansichten, auf deren volle Einheit er drang, dabei nicht frei von Übertreibungen; damit hängt es zusammen, daß er eigenwillig und intolerant gegen fremde Überzeugungen, ja ohne Verständnis für solche war, auch die Tatsachen nicht genügend berücksichtigte. Sein Freund und Arzt Hufeland bezeichnete sein Wesen treffend mit den Worten: »Sein Grundcharakter war die Überkraft«. Kein andrer deutscher Philosoph hat für die nationale Größe und Wiedergeburt des deutschen Volkes eine so opfermutige Begeisterung selbst gehegt und bei andern geweckt wie F. Sein Bildnis s. Tafel »Deutsche Philosophen I«.

[Fichtes Philosophie] knüpfte an Kant, und zwar an dessen idealistischen Faktor an. Kant hatte die Erfahrung für ein Produkt aus zwei Faktoren, einem idealistischen und einem realistischen, erklärt. Jenen, das erkennende Subjekt, betrachtete er als den Urheber der Form, diesen, das sogen. Ding an sich, als die Ursache der Materie der Erfahrungserkenntnis. Ohne die a priori im Erkenntnisvermögen gelegenen reinen Anschauungsformen des Neben- und Nacheinander (des Raumes und der Zeit) würden wir Kant zufolge keine räumlich und zeitlich angeordneten Sinnesempfindungen, ohne das seiner Qualität nach übrigens unbekannt bleibende Ding an sich überhaupt keine Empfindungen haben. Das Dasein desselben erkennen wir eben mittels des Daseins der Empfindungen in uns. Da wir uns nicht bewußt sind, diese selbst in uns hervorgebracht zu haben, so schließen wir nach dem Kausalgesetz, daß sie von irgend einer von uns selbst verschiedenen Ursache, einem Ding an sich, hervorgebracht seien, ein solches demnach wirklich existiere. F. bezeichnete diese Folgerung als einen Fehlschluß. Fällt aber so der von Kant festgehaltene realistische Faktor der Erfahrungserkenntnis weg, so bleibt nur der idealistische übrig, d. h. die Empfindungen (als Materie der Erfahrung) sind ebensogut subjektiven Ursprungs wie die Verknüpfung derselben im Neben- und Nacheinander (als Form und Erfahrung). Das einzige daher, aus dem die tatsächlich im Bewußtsein vorhandene Vorstellungswelt wirklich erklärt werden kann und daher auch muß, ist das Subjekt, das, da außer ihm nichts existiert, notwendig der Erzeuger seiner gesamten Vorstellungswelt sein muß. F. glaubte so Kants Ansichten in dessen eignem Sinne weiter zu bilden, daß die Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung gewiß nur vorläufig gelte. Kant erklärte dies 1799 für einen Irrtum und Fichtes Wissenschaftslehre für ein ganz verfehltes System, worauf F. in seiner Selbstüberhebung erwiderte: »der heilige Geist in Kant habe wahrer als Kants individuelle Persönlichkeit gedacht«.

Die Aufgabe, die Kants Philosophie sich gesteckt hatte, die gegebene Erfahrung aus zwei Faktoren zu konstruieren, wurde von F. insofern beschränkt, als er sie aus einem einzigen, dem Subjekt oder dem Ich, konstruierte, zugleich aber dahin bestimmte, daß Philosophie in Wissenschaft, d. h. in ein konsequentes, auf einem durch sich selbst gewissen Fundament aufgebautes System, in dem ein Satz den andern und das Fundament alle trägt, zu verwandeln sei. Ersterer Umstand gab Fichtes Philosophie den idealistischen, letzterer den Charakter einer Wissenschaftslehre, d. h. einer Anweisung, wie ein durchaus und streng wissenschaftliches Wissen zustande zu bringen sei. Daß unter dem Subjekt, also dem Ich, sein eignes persönliches (das Ich des Individuums F.) gemeint sein sollte, als spiegele er selbst sich die Welt nur vor und sei eigentlich mit seiner Phantasmagorie allein im Weltraum vorhanden, erklärte F. selbst für einen »unsinnigen und bodenlosen Idealismus und Egoismus«, den ihm »beleidigte Höflinge und ärgerliche Philosophen« angedichtet hätten. Das Ich wird von ihm (wie das Erkenntnisvermögen von Kant) nicht im individuellen, sondern im allgemeinen Sinne gefaßt, um begreiflich zu machen, wie in einem solchen und durch ein solches ein Wissen überhaupt zustande komme; es ist das absolute Ich oder die Ichheit. Die Vorstellungen, von deren Erzeugung das Ich nichts weiß, sind ebensogut durch dasselbe selbst hervorgebracht wie diejenigen, bei denen es sich seines Hervorbringens bewußt ist. Es findet daher zwar nach wie vor ein Unterschied statt zwischen Vorstellungen, die im Bewußtsein angetroffen werden, aber scheinbar nicht vom Subjekt herrühren, und solchen, von denen das Subjekt sich bewußt ist, sie hervorgebracht zu haben; aber auch die scheinbar nicht vom Ich herrührenden Vorstellungen rühren von diesem ebensogut her wie die von ihm selbst als von ihm herrührend gewußten. Was überhaupt im Subjekt vorhanden ist, ist durch dieses gesetzt; dasjenige, bei dem das Subjekt (das Ich) dieser Setzung sich nicht bewußt ist, betrachtet es zwar als durch ein andres (ein Nicht-Subjekt, Nicht-Ich) gesetzt, aber nur, um es schließlich als seine Setzung (durch das Subjekt gesetzt) wieder zurückzunehmen. Die drei Stufen dieses Prozesses, das Setzen des Ichs, das Setzen des Nicht-Ichs und der gegenseitigen Einschränkung des Ichs und Nicht-Ichs, die F. als Thesis, Antithesis und Synthesis bezeichnet, bilden das Instrument, durch das F. die ganze Erfahrungswelt in Taten des Ichs und die sogen. Transzendentalphilosophie, als Wissen von dem Zustandekommen der Erfahrung, in Selbstbewußtsein des Ichs, als Wissen von diesen Taten als den seinigen, auflöst. Wie Raum und Zeit, die Formen der Empfindungen, müssen diese selbst als Taten des Ichs aufgezeigt werden. Für F. war es die eigentümliche Aufgabe der Wissenschaftslehre, zu zeigen, wie die unwillkürlichen Vorstellungen, das Sehen, Hören etc., aus eigner, zwar nicht gesetzloser, aber durch nichts andres als durch die Natur des tätigen Subjekts selbst gebundener Tätigkeit hervorgehen. Diese, die handelnde Intelligenz, findet sich bei ihrer Produktion zwar in »unbegreifliche Schranken« eingeschlossen; dieselben sind aber nichts weiter als die Folgen ihres eignen Wesens, Gesetze der Intelligenz, und indem diese die Nötigung, von der ihre bestimmten Vorstellungen begleitet sind, fühlt, empfindet sie nicht einen Eindruck von außen, sondern ihr eignes Gesetz.

Durch diese Gesetze ist die Gestalt dieser Welt als das notwendige Produkt des in »unbegreifliche Schranken« ihres Wesens eingeschlossenen Handelns der Intelligenz begründet, d. h. die Welt unsrer Vorstellungen kann keine andre sein, als die Natur der Intelligenz es gestattet. Keineswegs aber sind dadurch jene Schranken selbst und das in ihnen sich bewegende Handeln der Intelligenz begreiflich gemacht. Soll dieses kein zweckloses und die hervorgebrachte Welt kein unbegreifliches und trügerisches Spiel sein, so muß ihm und dadurch auch der sinnlichen Erscheinungswelt irgend ein Zweck, eine vernünftige Absicht, allerdings nicht außerhalb des Subjekts, da außer dem Ich nichts existiert, sondern innerhalb desselben, zugrunde liegen. Dieser Zweck, dessen Erweis F. in der Sittenlehre versucht, liegt darin, daß das Ich Selbstzweck und die Erscheinung einer Welt das einzige Mittel, d. h. die Bedingung zur Erreichung desselben ist. Handeln, das Wesen des Ichs, ist zugleich dessen absolute Bestimmung, und da es ohne Erscheinung einer bestimmten Welt zu einem bestimmten Handeln nicht kommen könnte, so liegt die Produktion der Erscheinungswelt auf dem Wege zwischen dem Ich, wie es (potentialiter, der Möglichkeit nach) an sich und (actualiter, der Wirklichkeit nach) infolge seiner eignen Selbstverwirklichung für sich ist. Kann Wirksamkeit überhaupt, also auch jene des Ichs, gar nicht gedacht werden ohne den Gegensatz von Innen und Außen, Subjekt und Objekt, von etwas, wovon sie ausgehen, und etwas, auf das sie hingehen muß: so bildet der absolut durch das Ich selbst gesetzte Zweck das eine, der rohe Stoff der Welt das andre Ende; die Setzung und Bewältigung des letztern zur Realisierung und Bewährung des erstern macht die Bestimmung des Ichs aus. »Unsre Welt«, lehrt F., »ist das versinnlichte Material unsrer Pflicht; dies ist das eigentliche Reelle in den Dingen, der wahre Grundstoff aller Erscheinung.« Die Realität der Welt beruht nicht auf einem Wissen, sondern (ähnlich wie nach Kants Postulierungsmethode der praktischen Vernunft für diese das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele) auf einem bloßen Glauben, der seinerseits in der Notwendigkeit wurzelt, das Pflichtgebot zu realisieren, das sich ohne eine Welt nicht realisieren läßt. Die aus der ursprünglichen Einrichtung unsrer (subjektiven) Natur ausgeborne (idealistische) Welt ist daher zwar nur das Spiegelbild dieser, die Offenbarung unsrer selbst; das Ganze aber ist eine durchaus moralische Anordnung und dient moralischen Zwecken. »Diese lebendige moralische Ordnung ist Gott«; eines andern bedürfen wir nicht und können keinen andern fassen, denn der Schluß, daß, wo Ordnung sich kundgebe, ein Ordner vorauszusetzen sei, »wird durch den Verstand gemacht und gilt nur auf dem Gebiet der sinnlichen Erfahrung«. Ihm Bewußtsein zuschreiben, hieße ihn in Schranken einschließen, d. h. vermenschlichen; ein Bewußtsein ohne Schranken wäre ein »für uns ganz unbegreifliches Wissen«; »jeder Begriff von der Gottheit würde ein Abgott«. Das einzige wahrhaft Absolute, das erste und einzige An-sich, das dem Menschen gegeben ist, ist »das Postulat einer übersinnlichen Weltordnung«.

In der ersten Periode Fichtes, der die Schriften bis zum Jahr 1800 angehören, bildet das Postulat der übersinnlichen Weltordnung den Endpunkt, in den Schriften der zweiten Periode (1800–1814), namentlich in der Schrift von der Bestimmung des Menschen, den Ausgang. Wird jene, »d as einzige wahre Absolute«, »Gott«, von den unbegreiflichen Schranken, in denen das menschliche Ich als handelnde Intelligenz sich »gefangen« findet, aufsteigend nur erreicht, wenn die Schranke von diesem schlechthin weggedacht, die endliche Intelligenz zur unendlichen (ebendarum »für uns unbegreiflichen«) erweitert wird, so kann umgekehrt, vom Absoluten ausgehend, zum Menschlichen nur herabgestiegen werden, wenn das an sich Schrankenlose in die Schranken des menschlichen Bewußtseins gefaßt, das unendliche Ich zum endlichen (ebendarum »begriffenen«) verengert wird. Damit ist zugleich ausgesprochen, daß das unendliche Ich nicht in einem, sondern nur in einer unendlichen Menge endlicher Ichs Verwirklichung finden kann, deren jedes für sich ebensosehr ein (in sich beschlossenes) Ich wie im Verhältnis zu den übrigen ein (für diese abgeschlossenes) Nicht-Ich darstellt und durch Erfüllung seiner besondern den auf dasselbe entfallenden Teil der allgemeinen Bestimmung, der Selbstverwirklichung des Absoluten (der moralischen Ordnung, Gottes), realisiert und dadurch (auf seinem Standpunkt) die »übersinnliche Welt«, das »einzige Absolute«, mit verwirklicht. Wie auf dem Standpunkt der Sittenlehre zwischen dem Ich als Selbstzweck und dessen Verwirklichung die sinnliche Scheinwelt als Mittel und Bedingung zu dieser, so liegt zwischen dem Absoluten (der zu realisierenden moralischen Ordnung) und dessen Verwirklichung die Welt der endlichen Ichs, d. h. die in einer Vielheit leiblich getrennter Vernunftwesen vollzogene Versinnlichung der Übersinnlichen als Mittel und Bedingung seiner Selbstrealisierung. Die Phasen, welche die letztere nacheinander durchläuft, gaben F. den Anhaltspunkt zu einer ebenso großartigen wie tief ethischen Philosophie der Geschichte, deren Grundlage die Einheit des Menschengeschlechts in Gott, deren Endziel die Wiedervereinigung desselben in diesem ist. In der »Anweisung zum seligen Leben« (vom Jahr 1806) werden von ihm drei Perioden unterschieden. Daß diese seine spätere Philosophie, die Hegel verhöhnte, von seiner anfänglichen nur dem Ausdruck nach verschieden sei, hat F. ausdrücklich (gegen Schelling) behauptet. Eine eigentliche Schule hat F. nicht gebildet, sondern es haben nur einzelne, namentlich Schad, Mehmel, Cramer, Schmidt, Michaelis u. a., seine Lehre adoptiert. Gleichwohl ist Fichtes Einfluß auf die folgende Entwickelung der deutschen Philosophie so bedeutend, daß in ihm allein der Schlüssel zu allem Verständnis der Neuern liegt, indem nicht nur Schelling und Hegel auf der von ihm zuerst eingeschlagenen Bahn der Spekulation weiterschritten, sondern selbst deren Antipode Herbart durch das im Fichteschen »Ich« liegende Problem auf die Grundaufgabe seiner Metaphysik hingeleitet worden zu sein selbst bekennt, Schopenhauer aber in der ersten Hälfte seiner Weltanschauung, in der »Welt als Vorstellung«, ganz mit F. übereinstimmt. Auch neuerdings gewinnt Fichtes Lehre wieder Einfluß.

Fichtes »Sämtliche Werke« wurden von seinem einzigen Sohn, Imm. Herm. F. (s. unten), herausgegeben (Berl. 1845–46, 8 Bde.), der auch »J. G. Fichtes Leben und literarischen Briefwechsel« (Sulzb. 1830, 2 Bde.; 2. Aufl., Leipz. 1862) veröffentlichte und in seiner »Charakteristik der neuern Philosophie« (2. Aufl., Sulzb. 1841) Fichtes System klar darstellte. Sehr ausführlich ist F. behandelt in K. Fischers »Geschichte der neuern Philosophie«, Bd. 6 (3. Aufl., Heidelb. 1900). Vgl. außerdem Busse, F. und seine Beziehungen zur Gegenwart des deutschen Volkes (Halle 1848–49, 2 Bde.); Löwe, Die Philosophie Fichtes nach dem Gesamtergebnis ihrer Entwickelung und in ihrem Verhältnis zu Kant und Spinoza (Stuttg. 1862); Noack, J. G. F. nach seinem Leben, Lehren und Wirken (Leipz. 1862); F. Zimmer, J. G. Fichtes Religionsphilosophie (Berl. 1878); Adamson, J. G. F. (Lond. 1881); Färber, J. G. F. (Bd. 12 der »Klassiker der Pädagogik«, Langensalza 1891); Kabitz, Studien zur Entwickelungsgeschichte der Fichteschen Wissenschaftslehre aus der Kantischen Philosophie (Berl. 1902); Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte (Tübing. 1902).

2) Immanuel Hermann von, theistischer Philosoph, Sohn des vorigen, geb. 18. Juli 1797 in Jena, gest. 8. Aug. 1879 in Stuttgart, war seit 1822 Gymnasialprofessor, zuerst in Saarbrücken, hierauf in Düsseldorf, seit 1836 außerordentlicher, seit 1840 ordentlicher Professor der Philosophie an der Universität zu Bonn, folgte 1842 einem Ruf in gleicher Eigenschaft nach Tübingen und ließ sich, nachdem er 1867 geadelt worden und in den Ruhestand getreten war, in Stuttgart nieder. Seine hauptsächlichsten Schriften sind: »Sätze zur Vorschule zur Theologie« (Stuttg. 1826); »Beiträge zur Charakteristik der neuern Philosophie« (Sulzb. 1829,2. vollständig umgearbeitete Aufl. 1841); »Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie« (Heidelb. 1832–36, 3 Tle.); »Religion und Philosophie in ihrem gegenwärtigen Verhältnis« (das. 1834); »Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Fortdauer« (Elberf. 1834; 2. Aufl., Leipz. 1855); »Die spekulative Theologie« (Heidelb. 1846–47, 3 Tle.): »System der Ethik« (das. 1850–53, 2 Bde.); »Anthropologie« (das. 1856, 3. Aufl. 1876); »Psychologie« (das. 1864–73, 2 Bde.); »Vermischte Schriften« (das. 1869, 2 Bde.); »Die theistische Weltansicht und ihre Berechtigung« (das. 1873); »Der neuere Spiritualismus« (das. 1878); außerdem zahlreiche Abhandlungen in der von ihm seit 1837 herausgegebenen »Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie« (Tübing. 1837–48, 20 Bde.; fortgesetzt mit Ulrici und Wirth, Halle 1852ff.). Auch gab er die Werke seines Vaters und dessen Biographie und Briefwechsel (s. oben) heraus. In der Philosophie nimmt F. eine Vermittlerstellung zwischen entgegengesetzten Richtungen ein, daher auch der Vorschlag regelmäßig wiederkehrender Philosophenversammlungen zum Zwecke gegenseitiger Verständigung von ihm ausgegangen, und die erste 1847 in Gotha auch wirklich zustande gebracht und mit einem Vortrag: »Über die Zukunft der Philosophie« (Stuttg. 1847), begrüßt worden ist. Er betrachtet als solche Gegensätze die streng monistische Metaphysik, die nur Ein Seiendes, und die streng individualistische, die nur viele Seiende kennt; als deren Repräsentanten erscheinen ihm unter den Neuern Hegel und Herbart, die den Pantheismus und den Deismus vertreten. Ihnen setzt er Leibniz' Theismus als Repräsentanten der Einheit in der Vielheit und der Vielheit in der Einheit (Urmonas und Monaden) entgegen. Während er in seinen frühern Schriften das Hauptproblem dieses seines vermittelnden Standpunktes, die Erhaltung des Endlichen dem Unendlichen und dieses jenem gegenüber, auf spekulativem Wege zu lösen suchte, betrat er in seinen spätern, vorzugsweise psychologischen Schriften den empirischen Weg. Die Existenz des Göttlichen soll als dem menschlichen Geist immanent und transzendent (in ihm und über ihm seiend) erwiesen werden durch die »Tatsache« eines »Überempirischen im Empirischen«, einer »höhern«, geistigen Individualität im Menschen neben dessen niederer, irdischer, die von ihm als »Genius« bezeichnet und als das unmittelbare Bindeglied zwischen Gott und dem Menschen betrachtet wird. Das metaphysische Problem, wie die Gesamtheit dieser »Genien« sich zu Gott als der Urpersönlichkeit verhalte, wird damit in die höhere übersinnliche Welt, in das Geisterreich, verlegt, die Existenz des Genius im sinnlichen Menschen aber durch »Tatsachen« einer höhern Erfahrung, durch die Erscheinungen des Hellsehens, der Erleuchtung erwiesen. Die Berufung auf nicht zu erweisende Tatsachen hat Fichtes Philosophie in den Ruf der Mystik und der Theosophie, seine Vermittlerrolle bei beiden Parteien in den Ruf der Halbheit gebracht, dagegen sind die Wahrheitsliebe und die makellose Reinheit seines Charakters, wodurch er an seinen Vater erinnert, auch von seinen Gegnern anerkannt worden.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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