Chemische Verwandtschaft

Chemische Verwandtschaft

Chemische Verwandtschaft (Affinität, chemische Anziehung), die Kraft, die bei Bildung chemischer Verbindungen zwischen den Atomen tätig ist und die Moleküle in sich zusammenhält. Die erste wissenschaftliche Behandlung des Affinitätsproblems findet sich bei Boyle, der zuerst zwischen physikalischem Gemenge und chemischer Verbindung klar unterschied und als Ursache chemischer Veränderungen eine Wechselwirkung der kleinsten Teile (corpuscula) annahm, die mit verschiedenen Anziehungskräften aneinander gehalten würden. Newton erklärte die ch. V. durch Anziehungskräfte, die als Funktion der Entfernung zwischen den Atomen der sich verbindenden Stoffe wirksam sind. Seitdem wurde die Affinität als eine der Materie innewohnende Eigenschaft aufgefaßt, die sich stets als Wechselbeziehung zwischen zwei Komponenten darstellt. In einem Gemenge von Stoffen sollten sich diejenigen zuerst verbinden, zwischen deren Teilchen die größte Anziehungskraft wirksam ist. Seit Glauber und Boyle stellte man Reihen chemisch ähnlicher Stoffe auf, von denen jeder den andern aus seinen Verbindungen zu verdrängen vermag, und um die Mitte des 18. Jahrh. waren diese Verwandtschaftsreihen (Affinitätstabellen) im allgemeinen Gebrauch. Bergman unterschied eine attractio aggregationis zwischen gleichartigen und eine attractio compositionis zwischen verschiedenartigen Teilchen. Wird aus einer Verbindung ein Stoff durch einen andern abgeschieden, so liegt einfache Wahlverwandtschaft vor, tritt ein Austausch von zwei Bestandtteilen verschiedener Verbindungen ein, so erfolgt dies durch doppelte Wahlverwandtschaft. Bergman glaubte an eine konstante Ordnung der Anziehungen, nur die Wärme kehre die Ordnung zuweilen um.

Eine Wendung erfuhren diese Anschauungen durch die Erkenntnis des Einflusses der Menge auf das Ergebnis chemischer Vorgänge. Wenzel suchte aus der Reaktionsgeschwindigkeit, mit der verschiedene Metalle in Säuren gelöst werden, auf die Größe der chemischen Verwandtschaft zwischen Metall und Säure zu schließen und stellte den Satz auf, daß die Stärke der chemischen Wirkung proportional sei der Konzentration und Menge des wirkenden Stoffes. Berthollet, der ebenfalls zur Idee der chemischen Massenwirkung gekommen war, zeigte, daß durch das Spiel der chemischen Verwandtschaftskräfte nur dann vollständige Umsetzung zustande komme, wenn durch die Wirkungen von Kohäsion (Schwerlöslichkeit) oder Elastizität (Flüchtigkeit) einer der entstehenden Stoffe aus dem Reaktionsgemisch entfernt wird. Neue Wege zur Lösung des Affinitätsproblems wurden durch die Ausstellung des Energieprinzips zuerst in der Thermochemie, dann in der Elektrochemie eröffnet. Schon Boyle berichtet von Versuchen zur quantitativen Bestimmung von Wärmetönungen, und Lavoisier erkannte, daß zur Zerlegung einer Verbindung in ihre Bestandteile ebensoviel Wärme verbraucht wie bei der Bildung der Verbindung aus diesen Bestandteilen erzeugt wird. Heß sprach 1840 für thermochemische Vorgänge den ersten Energiesatz in seinem ganzen Umfang als das Gesetz der konstanten Wärmesummen aus. Er zerlegte zusammengesetzte Vorgänge in einzelne Teilvorgänge, maß die den letztern entsprechenden Wärmemengen und zeigte, daß deren Summe konstant und nur von den Anfangs- und Endprodukten abhängig sei. Einen weitern Fortschritt brachten die Arbeiten von Mayer, der in den Wärmetönungen, die bei chemischen Reaktionen auftreten, Umwandlungen von Wärmeenergie in eine andre Energie sah. Bei der chemischen Reaktion entwickelt sich die Wärme auf Kosten der abnehmenden chemischen Energie. Den ersten Versuch, die Größe der chemischen Verwandtschaft aus den Reaktionswärmen zu bestimmen, machte Thomson 1854. Sein Grundgedanke ist, daß die bei chemischen Prozessen auftretende Wärmetönung ein Maß für die Affinität der betreffenden Stoffe sei. Er glaubt, der Sinn, in dem eine chemische Reaktion freiwillig, d. h. ohne Mitwirkung einer fremden Energie, verlaufe, sei bestimmt durch das Vorzeichen der sie begleitenden Wärmetönung. Und obwohl das Experiment alsbald Widersprüche gegen diese Voraussetzungen ergab, konnte Berthelot doch noch 10 Jahre später aussprechen, daß jede chemische Änderung, die freiwillig verlaufe, zur Bildung desjenigen Systems von Körpern strebe, das die größte Wärmemenge entwickle. Erst nach der Anwendung des zweiten Hauptsatzes der Energielehre auf chemische Erscheinungen konnte gezeigt werden, daß dem Berthelotschen Prinzip der größten Arbeit keine allgemeine Gültigkeit zukomme.

Die chemischen Wirkungen des elektrischen Stromes erweckten schon früh die Aussicht auf eine Förderung des Affinitätsproblems. Berzelius betrachtete die chemischen Verwandtschaftskräfte als elektrostatische Anziehungen elektrisch geladener Atome, die chemischen Verbindungen als aus zwei Anteilen bestehend, einem positiven und einem negativen, die durch elektrische Anziehungskräfte zusammengehalten, auch durch solche getrennt werden können. Es wurde zwar bald erkannt, daß die Grundlage dieses Systems auf einer falschen Deutung der tatsächlichen Verhältnisse beruht, allein das System erhielt sich, bis es der auf den Begriffen der Isomerie und der Radikale beruhenden Systematik weichen mußte. Faraday entdeckte, daß die beim Durchgang eines Stromes durch einen flüssigen Leiter stattfindende chemische Zersetzung proportional der durchgegangenen Elektrizitätsmenge sei, und daß die durch denselben Strom gleichzeitig ausgeschiedenen Mengen verschiedener Stoffe im Verhältnis ihrer chemischen Äquivalente stehen; man nahm damals an, daß der Strom zersetzend auf den Elektrolyten wirke, aber Clausius zeigte, daß es dem Ohmschen Gesetz widerspreche, eine besondere Stromarbeit zur Trennung der Bestandteile anzunehmen, daß vielmehr die im Elektrolyten frei vorhandenen Ionen lediglich durch den Strom nach den Elektroden transportiert und dort abgeschieden würden. Ähnliche Ansichten sprachen Kohlrausch und Hittorf aus, und Arrhenius formulierte dann seine elektrolytische Dissoziaionstheorie, nach der die Elektrolyte in wässeriger Lösung teilweise in ihre Ionen gespalten sind. Je vollkommener ein Elektrolyt in seine Ionen gespalten ist, um so größer ist seine Leitfähigkeit und seine chemische Aktivität, denn nur die freien Ionen leiten und reagieren. Die Wanderung der Ionen zu den Elektroden geschieht unter dem Einfluß elektrostatischer Anziehungen zwischen den Elektroden und den Ionen, die nach Arrhenius mit ganz bedeutenden Elektrizitätsmengen geladen sind. An den Elektroden geben die Ionen ihre Ladungen ab und werden als Atome oder ungesättigte Atomgruppen ausgeschieden.

Bei der Lösung eines Elektrolyten wird die Energiemenge, die zur Dissoziation der Bestandteile nötig ist, in Form von Wärme aus der Umgebung aufgenommen, die Lösung kühlt sich ab. Die Arbeit, die vom elektrischen Strom beim Durchgang durch die Lösung geleistet wird, zerfällt in zwei Teile. Der eine Teil ist abhängig vom Widerstande der Lösung und hat nichts mit der chemischen Arbeit zu tun; er setzt sich glatt in Wärme um; der andre Teil wird verbraucht, um die Ionen aus den Elektroden auszuscheiden, wobei eine durch die ausgeschiedenen atomistischen Bestandteile entstehende elektromotorische Gegenkraft zu überwinden ist. Dieser Teil der Stromarbeit stellt die Differenz des Energiegehaltes von Atom und Ion dar. Die thermodynamische Behandlung der chemischen Probleme gestaltet sich am anschaulichsten mittels des von Helmholtz aufgestellten Begriffs der frei verwandelbaren Energie. Die freie Energie stellt sich dar als die nach den Forderungen des zweiten Hauptsatzes mathematisch definierte Wärmemenge, die sich bei konstanter Temperatur beliebig in andre Energien umwandeln läßt. Berthelot wie Thomson hatten diese frei verwandelbare Energie mit der gesamten Wärmetönung verwechselt, während solche Verwechselung nur zulässig ist bei Prozessen, die sich bei der absoluten Temperatur 0° abspielen, und bei solchen, deren Verlauf durch die Temperatur nicht beeinflußt wird. Jede freiwillig erfolgende chemische Änderung kann nur unter äußerer Arbeitsleistung, d. h. im Sinn einer Abnahme der freien Energie vor sich gehen. Die Methoden zur Bestimmung der Änderung der freien Energie gestatten daher die Bestimmung der Affinität zwischen den reagierenden Körpern. Solche Methoden sind die Messung der elektromotorischen Kraft galvanischer Kombinationen, da sich nach Helmholtz die Änderung der freien Energie, die dem chemischen Vorgang entspricht, aus der elektromotorischen Kraft der Kette berechnen läßt. Ferner läßt sich die ch. V. aus dem Gleichgewicht zwischen reagierenden Stoffen bestimmen, indem das Gleichgewicht durch die maximale äußere Arbeit bedingt ist. Der Gleichgewichtskoeffizient, der sich aus dem Massenwirkungsgesetz ableitet, ist ebenfalls durch die Änderung der freien Energie bestimmt. Das empirisch von Guldberg und Waage gefundene Gesetz, nach dem die chemische Wirkung eines Stoffes seiner wirksamen Masse, d. h. seiner Konzentration im Reaktionsgemisch, proportional ist, ergibt sich als strenges Postulat der Thermodynamik. Da der osmotische Druck für Lösungen ungefähr dieselbe Bedeutung hat wieder Dampfdruck für gasförmige Körper, ist es möglich, die Thermodynamik der Gase direkt auf die Lösungen zu übertragen. Die maximale osmotische Arbeit, die bis zum Erreichen des Gleichgewichtszustandes beim Entstehen der einen und beim Verschwinden der andern Molekülgattung im Reaktionsgemisch frei wird, gibt auch ein Maß für die bei der Reaktion beteiligten Affinitätskräfte. Vgl. Siegrist, Chemische Affinität und Energieprinzip (Stuttg. 1902).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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