Cavour [2]

Cavour [2]

Cavour (spr. -wūr), Graf Camillo Benso di, ital. Staatsmann, geb. 10. Aug. 1810 in Turin, gest. 6. Juni 1861, besuchte die Militärakademie zu Turin und wurde 1826 Genieleutnant. Doch nahm er 1831 seinen Abschied, widmete sich dem Studium der Nationalökonomie und der Bewirtschaftung eines Landgutes und reiste wiederholt nach England und Frankreich. Das konstitutionelle System Englands ward das Ideal seiner Politik. Infolge der Reformbewegungen von 1846 begründete er 1847 mit Cesare Balbo u. a. die Zeitschrift »11 Risorgimento«, für die er namentlich nationalökonomische Artikel schrieb. Durch die Verkündigung der sardinischen Verfassung vom 5. März 1848 wurde sein lebhafter Wunsch und ein von ihm im Dezember 1847 gemachter Vorschlag erfüllt. In der Kammer, in der er erst allmählich eine bedeutendere Rednergabe entwickelte, vertrat er einen gemäßigten Liberalismus und erklärte sich gegen alle revolutionären Ausschreitungen einerseits, gegen die Mißbräuche der kirchlichen Gewalt und der geistlichen Gerichtsbarkeit anderseits. Demgemäß unterstützte er 1849 das Ministerium d'Azeglio, in dem er 1850 das Portefeuille des Handels und der Marine und im April 1851 das der Finanzen übernahm. Er schuf Ordnung in den Finanzen, schloß Handelsverträge mit auswärtigen Staaten, sorgte für Herstellung von Straßen und Eisenbahnen, hob die Marine, für die er Spezia als Hauptkriegshafen bestimmte, und gewann mehr und mehr Einfluß auf die ganze Regierung. Als er sich aber nach dem Staatsstreich Napoleons in Frankreich dem linken Zentrum unter Rattazzi näherte, um die klerikalen Revolutionäre zurückzudrängen, geriet er in Gegensatz zu andern Mitgliedern des Kabinetts, besonders zu d'Azeglio, und sah sich daher im Mai 1852 zum Rücktritt veranlaßt. Doch schon im November d. I. wurde er aus Paris, wo er Napoleon III. zuerst kennen lernte, zurückberufen. Er übernahm in dem von ihm gebildeten Kabinett neben dem Präsidium die Finanzen, Handel und Landwirtschaft; vorübergehend leitete er auch das Departement des Auswärtigen und des Innern. Von der Mehrheit der Kammer unterstützt, befolgte er eine liberale Politik nach den Grundsätzen der Verfassung von 1848, geriet dabei in Feindschaft zum Klerus, setzte aber trotz der Drohungen des Papstes mit Kirchenstrafen ein von Rattazzi, seinem Justizminister, eingebrachtes Gesetz wegen der Aufhebung einer Anzahl von Klöstern und der Einziehung ihrer Güler durch und entzog den religiösen Körperschaften das Monopol des Unterrichts. Schon 1854 trug er sich mit dem Gedanken, durch den Anschluß an die Westmächte im Krimkriege das letzte Ziel seiner politischen Gedanken, die Befreiung und Einigung Italiens, anzubahnen. Zufolge des am 10. Jan. 1855 abeschlossenen Bündnisses sandte er ein Korps von 15,000 Mann unter Lamarmora nach der Krim; und nach Beendigung des Krieges brachte er auf dem Pariser Kongreß 1856 trotz Österreich die »italienische Frage« zur Verhandlung und legte die Mißstände der militärischen Okkupation italienischer Staaten sowie die Schwäche der Regierungen jener Staaten, besonders der des Papstes, dar. Es kam ihm darauf an, Österreich zu isolieren und sich den Beistand Frankreichs zu sichern. Eine Zeitlang hatte es zwar den Anschein, als ob das Attentat Orsinis gegen Napoleon (14. Jan. 1858) einen Bruch des Kaisers mit seinen italienischen Freunden herbeiführen sollte; aber C. beschwichtigte den Zorn Napoleons durch ein Gesetz gegen den politischen Mord, das er im Frühjahr durchsetzte. Im Juli 1858 hatte er mit Napoleon eine Zusammenkunft zu Plombières, wo die französisch-sardinische Allianz, die Erwerbung Oberitaliens für Sardinien und die Abtretung. von Savoyen und Nizza an Frankreich verabredet wurden. Napoleon begann den diplomatischen Feldzug gegen Österreich mit dem Neujahrsempfang 1. Jan. 1859, dem die italienische Thronrede vom 10. Jan. 1859 folgte, in der Viktor Emanuel auf den »Schmerzensschrei Italiens« hören zu müssen erklärte. Österreich und Sardinien begannen sofort zu rüsten; die englischen und russischen Vermittelungsvorschläge scheiterten; 23. April überreichte ein österreichischer Offizier in Turin ein Ultimatum; 29. April rückten die Österreicher in Piemont ein.

Der Krieg nahm einen für die Verbündeten günstigen Verlauf. Um so überraschender traf C. die Nachricht von dem Abschluß der Friedenspräliminarien von Villafranca (11. Juli 1859). Er gab 13. Juli seine Entlassung ein und war aufs tiefste verbittert. Bald aber schöpfte er neue Hoffnung. Zunächst wirkte er im Verein mit seinen politischen Freunden auf die friedliche, durch Volksabstimmungen zu bewirkende Annexion von Mittel- und Süditalien hin. Im Januar 1860 übernahm er auch wieder das Ministerium. Ohne Rücksicht auf die Bestimmungen des Züricher Friedens genehmigte er den durch Volksabstimmung beschlossenen Anschluß Parmas, Modenas, Toskanas und der Romagna an Sardinien und beschwichtigte Frankreich durch die Abtretung von Savoyen und Nizza. Die Unternehmung Garibaldis gegen Sizilien unterstützte er mittelbar und ließ, als die neapolitanische Armee am Volturno noch Widerstand leistete, sardinische Truppen in den Kirchenstaat einrücken, welche die Marken und Umbrien durch den Sieg bei Castelfidardo (18. Sept. 1860) eroberten und den Rest des südlichen Königreichs besetzten, das nun auch mit Sardinien vereinigt wurde. Am 14. März 1861 krönte C. sein Werk durch von dem ersten italienischen Parlament beschlossene Proklamierung Viktor Emanuels zum König von Italien. Nur Rom und Venedig fehlten dem neuen Reiche noch. Über die römische Frage sprach sich C. 25. und 27. März im Parlament aus; er erkannte an, daß Rom die Hauptstadt Italiens sein müsse, hoffte aber, das dies Ziel auf dem Wege friedlicher Auseinandersetzung mit dem Papst erreicht werde, und mahnte zu Geduld und Mäßigung. Er vertraute auf den Sieg des Grundsatzes: »Freie Kirche im freien Staat«. Sein frühzeitiger Tod wurde von ganz Italien tief betrauert. C. war der größte Staatsmann Italiens seit Jahrhunderten; mit Recht feiern Denkmäler in allen größern Städten des Landes in ihm den Schöpfer der nationalen Einigung. Eine Gesamtausgabe der »Scritti del conte di C.« begann Zanichelli (Bologna 1892, Bd. 1 u. 2). Sein »Diario inedito« mit autobiographischen Aufzeichnungen veröffentlichte Berti (Rom 1888). Die »Discorsi parlamentari del conte Camillo di C.« gab Massari heraus (Turin 1863ff., 12 Bde.); »Lettere edite ed inedite del conte C. 1821–1861« veröffentlichte L. Chiala (das. 1883–1887, 6 Bde.; deutsch, Leipz. 1884ff.), bisher unbekannte Briefe Cavours and'Azeglio aus den Jahren 1852–61 Bianchi (1885); andre Briefsammlungen gaben A. Bert (Turin 1889), der Graf Nigra (das. 1894) und E. Mayor (das. 1895) heraus. Vgl. die Biographien Cavours von Massari (Turin 1873; deutsch, Leipz. 1874 und Jena 1874), Mazade (Par. 1877) und Berti (Rom 1886) sowie Treitschke, Cavour (in »Historische und politische Aufsätze«, neue Folge, Leipz. 1870, Bd. 1); F. X. Kraus, Cavour (Mainz 1902).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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