Cancionēro

Cancionēro

Cancionēro (span.; portug. Cancioneiro, »Liederbuch«) bezeichnet heute jede Sammlung lyrischer Gedichte von einem oder mehreren, bekannten oder unbekannten, kunstmäßigen oder volkstümlichen Verfassern, über einen bestimmten Gegenstand oder über eine bunte Reihe verschiedenartiger Motive. Wir unterscheiden Cancioneros palacianos, generales, particulares, especiales und populares. 1) Die wichtigsten, denen man jenen Namen gab, sind die höfischen (palacianos). Sie enthalten die Produkte geschlossener, poetischer Gesellschaften, die im Mittelalter an den Fürstenhöfen der Pyrenäischen Halbinsel bestanden, und tragen daher einen gemeinsamen konversationellen Charakter. Das früheste dieser höfischen Liederbücher, die in ihrer Ganzheit ein vollständiges abgerundetes Bild nicht nur von der Dichtkunst, sondern auch von dem geselligen Leben und Treiben eines bestimmten Hofkreises geben, ist portugiesisch-galicisch und umfaßt an 2000 Lieder von gegen 300 Troubadouren aus allen Gauen der Halbinsel, die sich um den Dichter und König Dom Diniz (1279–1325) und seine Vorfahren (von 1200 an) scharten. Man gibt ihm daher den Namen »Cancioneiro del rei Dem Dinis«. Die zweite Liedersammlung aus dieser Kategorie stammt vom Hofe der portugiesischen Könige Alfons V., Johann II. und Emanuel. Nach dem Sammler wird sie »Cancioneiro geral de Resende« genannt (Lissab. 1516; neuer Abdruck von Kaußler, Stuttg. 1850–51, 3 Bde.). Das älteste kastilische höfische Liederbuch »Cancioneiro de Baena« (hrsg. von Gayangos und Pidal, Madr. 1851, und von Fr. Michel, Leipz. 1852) steht zeitlich zwischen den vorigen. Es enthält die Produkte der poetischen Gesellschaft am Hofe der Könige Johann I., Heinrich kl I. und besonders Johann II. (etwa 1368–1406) in galicischer und vorwiegend schon in kastilischer Mundart. Vom aragonischen Hofe Ferdinands I. und seines Sohnes Alfons V. (von Neapel) existieren zwei Liederbücher in katalonischer Sprache handschriftlich als Cançoner d'amor auf der Pariser Nationalbibliothek und auf der Universitätsbibliothek zu Saragossa (s. Katalanische Literatur). Von den Sängern, die den letztgenannten Monarchen von Aragon nach Italien begleiteten, haben sich in kastilischer, aragonesischer, katalonischer und italienischer Zunge andre Sammlungen erhalten, von denen die wichtigern der »C. de Lope de Stuñiga« (Madr. 1873), »C. de Modena«, »C. Rennert« (Erlang. 1895) sind. 2) Allmählich drang die Kunstpoesie in immer weitere Kreise. Liebhaber begannen immer häufiger ähnliche Sammlungen anzulegen, beschränkten sich aber dabei weder aufeinen bestimmt begrenzten poetischen Kreis noch auf eine einheitliche Periode, sondern nahmen Altes und Neues ohne strenge Sonderung auf. So entstanden zahlreiche größere und kleinere Poesiealbums: ein eignes zu besitzen, war und blieb in Spanien und Portugal bis um die Mitte des 17. Jahrh. gang und gäbe. Die meisten mögen verloren sein. Viele sind handschriftlich vorhanden. Unter Ferdinand und Isabella, also in der zweiten Hälfte des 15. Jahrh., hatte man begonnen, derartige Mischsammlungen zu drucken unter dem bezeichnenden Titel »C. general«. Der früheste (von Juan Fernandez de Constantina) führt den Titel »C. llamado Guirnalda esmaltada de galanes y eloquentes dezires de diversos autores« und erschien ohne Angabe von Ort und Zeit wahrscheinlich noch zu Ende des 15. Jahrh. Im 16. Jahrh. weitergeführt und vermehrt von F. del Castillo, erschien der C. general zu Valencia 1511 und noch sechsmal in Folioausgaben spanischer Drucker (1514,1517,1520,1527,1535 u. 1540) sowie zweimal zu Antwerpen in Oktavbänden (1557 u. 1573). Die spätern vier mischen unter die altspanischen Weisen (Canciones, Villancicos, Romances, Glossas etc.) in Kurzzeilen bereits Erzeugnisse der italienischen Schule (Sonette, Oktaven etc.). Vollständig ist die Neuausgabe der »Sociedad de Bibliofilos Andaluces« 1882 in 2 Bänden. Damit war der einheitliche Charakter gänzlich aufgelöst. Um die Mitte des 16. Jahrh. ward der Titel C. aufgegeben und individuelle Bezeichnungen wie »Vergel de amores«, »Jardin de Amadores«, »Danza de galanes«, »Laberinto amoroso«, »Flores de ilustres Poetas« wurden gewählt. 3) An Liederbüchern mit Werken eines einzelnen Verfassers ist kein Mangel: Juan del Encina, Montemayor, Urrea gaben ihren eignen Gedichtsammlungen diesen Namen, und auch für die Werke von Mena, Santillana, Gomez Manrique, Alvarez Gato, Montoro wird der Titel C. gewählt. 4) Von Sammlungen verschiedener Kunstlieder mehrerer Dichter über gleiche oder ähnliche Gegenstände sind erwähnenswert ein »C. de Nuestra Señora«, ein »C. Vita Christi« und der »C. de obras de burlas« (Valencia 1519; neue Ausg., Lond. 1841). 5) Cancioneros populares, d. h. Volksliedersammlungen, hat man erst neuerdings, seitdem das Studium der Volkskunde in Blüte steht, veranstaltet. Portugal besitzt den seinen, dank Th. Bragas (s.d.) Eifer; desgleichen solche mit Musik: »Cancioneiro de musicas populares« (Porto 1895). Spanien hat deren mehrere, von Lafuente Alcantara, Segarra, Rodriguez Marin. 6) Einen alten musikalischen C. mit 460 Liedern und Melodien veröffentlichte Barbieri: »C. musical de los siglos XV y XVI« (Madr. 1890). 7) Nachahmungen der höfischen Liederbücher sind die akademischen, die das 17. Jahrh. zeitigte. 8) Ganz uneigentlich und schief heißen ältere Romanzensammlungen »C. de Romances« (s. Romancero). Vgl. Bellermann, Die alten Liederbücher der Portugiesen (Berl. 1840); F. Diez, Über die erste portugiesische Kunst- und Hofpoesie (Bonn 1863); F. Wolf, Über die Liederbücher der Spanier (Anhang zu Ticknors »Geschichte der spanischen Literatur«, Leipz. 1852); Derselbe, Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen Nationalliteratur (Berl. 1852); Dur an, Romancero general, Bd. 2 (Madr. 1851); Mussafia, Bibliografia dei Cancioneros Spagnuoli (Wien 1900).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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