Brahmanismus

Brahmanismus

Brahmanismus (vom sanskrit. Brâhmana, »Brahmane«), europäische Bezeichnung der Religion der Hindu in Britisch-Ostindien, zu der sich an 150 Mill. Menschen bekennen (vgl. die »Religionskarte der Erde«). Der B. beruht nicht auf dem System eines einzigen Mannes; er ist keine Reform, stellt sich nicht in Gegensatz zu frühern Ansichten. sondern ist das Produkt jahrhundertelanger Entwickelung. Seinen Ausgangspunkt bildet die Religion, die in der Literatur des Veda niedergelegt ist (s. Indische Religion, Veda). Die Faktoren, welche die religiöse Entwickelung über diese hinausführten, sind mannigfacher Art. Viele unter den ältern Göttergestalten und Gebräuchen starben ab. Das ungeordnete Gewirr der Götter, wie es im Rigveda vorliegt, wurde durch priesterliches Denken immer mehr systematisiert. Philosophische Spekulation schuf den Begriff des Brahma (s.d.), der Weltseele: wesentlich dieser Begriff war es, der die konkrete Gestalt eines höchsten Gottes Brahmâ (s.d.) entstehen ließ. Mittlerweile konsolidierte sich das Kastenwesen immer fester; die sozialen Ansprüche der Brahmanen (s.d.) stiegen immer höher. Ja das ganze Volkstum machte eine allmähliche Wandelung durch: im Zusammenleben mit den dunkelfarbigen Urbewohnern des Landes trat die unvermeidliche Rassenmischung ein; der arische Typus machte immer mehr dem des Hindu Platz. Im einzelnen ist es höchst schwierig und gegenwärtig geradezu unmöglich, zu ermitteln, wie weit die großen religiösen Neubildungen. die den B. vom Veda scheiden, auf einfacher Fortsetzung der vedischen Entwickelungslinien, wie weit sie auf Einflüssen der Urbewohner, bez. der Rassenmischung beruhen. Unter solchen Neubildungen ist in erster Linie hervorzuheben der Seelenwanderungsglaube, in seinen Anfängen bereits in jüngern vedischen Texten nachweisbar. Je nach dem Verdienst seiner Taten (Karman) wird das sterbende Wesen in glücklicher oder unglücklicher neuer Existenz, als Gott, Mensch, Tier, Höllenbewohner etc. wiedergeboren. Mit Vorliebe gefällt man sich betreffs der durch unermeßliche Zeiträume sich ausdehnenden Höllenqualen (vgl. Scherman, Indische Visionsliteratur, Leipz. 1892) in Schilderungen, aus denen die speziell priesterlichen Interessen, von denen sie diktiert sind, nur allzuoft hervorblicken. Erlösung von der Seelenwanderung verheißt die brahmanische Spekulation nur dem, der das Brahma und die Identität des eignen Ich mit demselben erkannt hat. Neben dem Aufkommen des Seelenwanderungsglaubens und offenbar jünger als dieser Vorgang stellt sich als wichtigstes Ereignis in der Entwickelung des B. das Emporsteigen der Götter Vischnu (s.d.) und Çiva (s.d.) zu ihrer beherrschenden Geltung dar (vgl. auch Avatara, Trimûrti). Vornehmste Texte des ältern B. sind das Manngesetzbuch (s. Sanskrit) und die beiden großen Epen Mahâbhârata (s.d.) und Râmâjana (s.d.); in ihrer uns vorliegenden Gestalt aus jüngerer Zeit stammen die Purânas (s.d.). Das genannte Gesetzbuch zeigt, wie den Mitgliedern der vier Kasten nicht bloß im allgemeinen ihr Platz und Beruf von Brahma selbst angewiesen ist, sondern alle damit verbundenen Rechte und Pflichten, Gebräuche und Formen jedem Stand in zahllosen Vorschriften bis ins kleinste Detail hinein vorgeschrieben sind. Selbst die peinlichste Gewissenhaftigkeit muß daran verzweifeln, dieser unübersehbaren Menge von Vorschriften immer zu genügen; für jeden ist also stets die Gefahr der Versündigung oder Verunreinigung sehr nahe. Darauf ist ein weitläufiges System von Reinigungen, Sühnen, Bußen und geistlichen Strafen aufgebaut. Über die Opposition, die allem Anscheine nach schon vor der Ausbildung oder doch vor der vollen Ausbildung der Vischnu- und Çivaverehrung sich gegen den B. im Buddhismus und bei den Dschaina erhob, s. Vischnu, Çiva, Dschaina. Der neuere B. kann nur als ein Epigonentum betrachtet werden, dem neue, schöpferische Gedanken fehlen, während das Volk immer mehr in groben Götzendienst versinkt. Die beiden Hauptrichtungen der Vischnuïten und Çivaïten sind durch einflußreiche Lehrer und philosophische Richtungen in zahlreiche Schattierungen zerspalten. Der B. der Gegenwart stellt sich uns daher als eine unbestimmte Zahl von sektierenden Parteien dar, die an eine Vielheit von Göttern, männliche wie weibliche, gütige wie Schaden bringende, glauben und in ihren täglichen, mit peinlicher Genauigkeit ausgeführten Zeremonien wie öffentlichen Feierlichkeiten (s. Ostindien) sich als ein zusammengehörendes Ganze zeigen. Man verehrt Dorfgottheiten; man verehrt die göttlichen »Mütter«; man verehrt Seelen und böse Geister und treibt sie aus; man verehrt Heilige, lebend und tot, nützliche Tiere wie die Kühe, schädliche wie die Schlangen; man verehrt Himmelskörper, Bäume, Felsen, Fetische. Der Purôhita (»Vorbeter«) wird bei Geburten, Heiraten und Todesfällen beigezogen. Reiche Familien unterhalten ihren eignen Purôhita, der dann zugleich der Vertraute und Lehrer der jüngern Familienglieder ist. Der Priester des Volkes ist zum Wahrsager herabgesunken; er nimmt gleich dem Pudschari oder Tempeldiener eine untergeordnete Stellung ein. Der Inder besucht den Tempel der Heiligkeit des Ortes, seiner Heilwirkungen etc. wegen, um das Götterbild zu sehen und zu verehren; einen Altargottesdienst kennt der B. nicht. Einzelne Sekten, wie die Çâktas, sind wilden Ausschweifungen ergeben, andre nicht minder wilden Selbstpeinigungen. Ein wichtiges Ereignis in der neuern Geschichte des B. war die Stiftung der Sekte der Sikhs (s.d.) durch Nanak (geb. 1465). Seit mehreren Dezennien zeigt sich unter den Brahmanen die Tendenz, die moralischen und deistischen Grundsätze ihres Glaubens in philosophischen Spekulationen auszubilden, dagegen den Fabeln in ihren heiligen Schriften weniger Wert beizulegen. Die Anregung zu dieser Richtung gab Ram Mahun Roy, der Stifter des Vereins Brahmo Samadsch, der 1814 zu Kalkutta als Reformator auftrat und auch mit dem Christentum sich bekannt machte; ja, einige seiner Nachfahren tragen offen das Bestreben zur Schau, in den B. christliche Ideen hineinzutragen (vgl. den Bericht über Keschab Tschander Sens Vorträge im »Magazin für die Literatur des Auslandes«, 1870, S. 407, und Schlagintweit in der »Deutschen Rundschau«, Bd. 6). Von hohem Interesse ist die Biographie eines Lehrers und Heiligen aus der neuesten Zeit: Max Müller, Râmakrishna, his life and sayings (Lond. u. Bombay 1898). Vgl. Lassen, Indische Altertumskunde (2. Aufl., Leipz. 1867ff., 4 Bde.); Barth, Les religions de l'Inde (Par. 1879); Monier Williams, Brahmanism and hinduism (4. Aufl., Lond. 1891); Hardy, Die vedisch-brahmanische Religion des alten Indiens (Münster 1893); Derselbe, Indische Religionsgeschichte (Leipz. 1898); Hopkins, The religions of India (Boston u. Lond. 1895); A. C. Lyall, Asiatic studies (Lond. 1899, 2 Bde.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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