Bevölkerung

Bevölkerung

Bevölkerung, die einem bestimmten Gebiet (Land, Provinz, Wohnort, Stromgebiet etc.) angehörende Volksmenge. Dieselbe wird gewöhnlich nur für ein geschlossenes Staatsgebiet oder einen administrativen Teil desselben statistisch erhoben, und zwar als innerlich durch Abstamnmng, Sprache, Sitte und andre Gemeinsamkeiten verbundene Einheit, deren Glieder nach physiologischen und sozialen Merkmalen, wie Geschlecht, Alter, Familienstand, Wohnplätze etc., sich gruppieren lassen. Größe der B. und deren Änderungen sind nicht allein für Staatsleben und Volkswohlfahrt von Wichtigkeit, sondern die Kenntnis derselben ist auch von hoher wissenschaftlicher Bedeutung. Infolgedessen ist die B. Gegenstand einer besondern Wissenschaft, der Bevölkerungslehre, geworden. Dieselbe zerfällt in: 1) die Bevölkerungsstatistik, die sich mit Erhebung und Zusammenstellung der die B. betreffenden statistischen Tatsachen befaßt und, weil die B. reiches, zu Vergleichungen brauchbares und kontrollfähiges Material liefert, den wichtigsten Teil der Statistik ausmacht; 2) die Theorie der B. (Populationistik), welche die aus den statistischen Tatsachen sich ergebenden allgemeinen Gesetze und Regelmäßigkeiten aufstellt und begründet; 3) die Bevölkerungspolitik, welche die Aufgaben behandelt, die sich aus jenen Tatsachen und Regelmäßigkeiten für das öffentliche Leben, insbes. für ein ordnendes Eingreifen der Staatsgewalt, ergeben.

Die ersten Keime dieser Wissenszweige reichen z. T. bis ins Altertum zurück. Man suchte zu bestimmten Zwecken (Besteuerung, politische Verfassung etc.) die Volkszahl zu ermitteln. Mit fortschreitender politischer Entwickelung erkannte man nicht allein in der Volkszahl eine wichtige Bedingung für Kraft und Wohlstand des Staates, sondern man war auch mit weiterer Ausbildung des Verkehrs genötigt, die einzelne Person als Trägerin von Rechten und Pflichten bestimmt zu bezeichnen. So entstanden die Listen für Geburten, Heiraten und Sterbefälle. Die mit Hilfe dieser Listen gewonnenen Erfahrungen, die schon frühzeitig zur Errichtung von Rentenanstalten Veranlassung gaben, wurden durch fortgesetzte Untersuchungen, insbes. durch Berechnungen bedeutender Mathematiker, wie Culer, Laplace, vervollständigt.

Bevölkerungsstatistik.

(Hierzu die Karte »Bevölkerungsdichtigkeit der Erde«, mit 2 Nebenkärtchen, und Tabelle)

Die erste praktische Anwendung solcher Berechnungen, die einen wichtigen Abschnitt der politischen Arithmetik bilden, machte John Graunt, Beamter der Stadt London (1662). Er fand bald Nacheiferer in Petty, Shorts, King, Davenant u. a. In Holland wendeten sich Kerseboom und Struyck, in Schweden Wargentin, in Frankreich Déparcieux und Duvillard dieser Wissenschaft zu. In Deutschland geschah dies vorzüglich erst in den Zeiten der Physiko-Theologie, die alle Erscheinungen in der Natur auf die Absichten Gottes bei der Schöpfung zurückzuführen suchte. So entstand das Werk Süßmilchs: »Die göttliche Ordnung in denen Veränderungen des menschlichen Geschlechts etc.« (Berl. 1742; 4. Aufl. von Baumann, das. 1775), dem sich die Arbeiten von Schlözer, v. Justi u. a. anreihten. Insbesondere lieferten schätzbare Beiträge: Odier in Genf, Finlaison in England, Châteauneuf und Villermé in Frankreich, Friedländer, ButteGrundriß der Arithmetik des menschlichen Lebens«, Landsh. 1811), CasperLebensdauer des Menschen«, Berl. 1835), Chr. Bernoulli (»Handbuch der Populationistik«, Ulm 1840–43) in Deutschland. Eine echt wissenschaftliche Bearbeitung erfuhr die Bevölkerungslehre vornehmlich durch die belgischen Statistiker QuételetSur l'homme, ou essai de physique sociale«, Par. 1835; deutsch von Riecke, Stuttg. 1838; neu bearbeitet u. d. T.: »Physique sociale«, 1869, 2 Bde.), Heuschling und Vischers, in Deutschland durch Ernst Engel (bis 1882 Direktor des königl. preußischen Statistischen Bureaus), dann durch WappäusAllgemeine Bevölkerungsstatistik«, Leipz. 1859–61, 2 Bde.), R. Böckh (»Der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet in den europäischen Staaten«, Berl. 1870), G. F. KnappTheorie des Bevölkerungswechsels«, Braunschw. 1874), Lexis (»Einleitung in die Theorie der Bevölkerungsstatistik«, Straßb. 1875), H. Schwabe u. a.

Die Wissenschaft der B. befaßt sich zunächst mit der Ermittelung des derzeitigen Zustandes einer bestimmten Volksmenge, ihrer Zahl und Eigenschaften (Stand der B.), dann mit Erforschung und Erklärung der Veränderung dieses Zustandes (Gang, Bewegung, Wachstum der B.). Die Ermittelung von Stand und Bewegung der B. erfolgt teils direkt durch systematische Aufzeichnungen (Zivilstandsregister, Steuerkataster etc.) und Zählungen, teils indirekt durch Schätzung und Berechnung. Die indirekte Methode knüpft an Verhältnisse an, die zur Zahl in Beziehung stehen (Zahl der Familien, Wohnhäuser, der Geburten, Sterbefälle etc.). Dieselbe führt nur unter bestimmten Voraussetzungen (Unveränderlichkeit der gesamten Volkszahl, genaue Ermittelung von Aus- und Einwanderung etc.) zu richtigen Ergebnissen und bildet, wenn sie sich nicht auf vorausgegangene Zählungen stützen kann, einen wenig brauchbaren Notbehelf. Ganz unzuverlässig ist das Verfahren, nur einen Teil des zu beobachtenden Gebiets auszuzählen und das gewonnene Ergebnis auf das ganze Gebiet nach dem Verhältnis seiner Größe anzuwenden. Sonach bildet eine unumgängliche Grundlage der Bevölkerungsstatistik die direkte Auszählung, die von Zeit zu Zeit zu wiederholen und inzwischen durch fortlaufende Aufzeichnungen und Berechnungen zu ergänzen ist (s. Volkszählungen).

Volksdichtigkeit Übervölkerung.

Zu unterscheiden sind absolute und relative (spezifische) B. Die erstere, welche die Einwohnerzahl eines ganzen Zählgebiets, und zwar die rechtliche (ortsansässige) oder die tatsächlich vorhandene angibt, ist von Bedeutung für Beurteilung der volkswirtschaftlichen, militärischen und finanziellen Leistungsfähigkeit eines Volkes. Die relative B. gibt das Verhältnis der Volkszahl zum Flächeninhalte des Zählgebiets (durchschnittliche B. der Flächeneinheit) oder die Volksdichtigkeit an. Dieselbe ist von Land zu Land, dann in einzelnen Teilen ein und desselben Landes sehr verschieden, wie die unsrer Karte beigegebene Tabelle zeigt.

Eine große Dichtigkeit der B. ist im allgemeinen möglich bei großer Fruchtbarkeit des Landes, Reichtum desselben an Erzen und fossilen Brennstoffen, einfachen Bedürfnissen der B. (Java), intensiver Bodenwirtschaft (China, Lombardei), hoher Entwickelung des Verkehrswesens und der Industrie bei vorteilhafter Gestaltung der Bodenoberfläche und günstiger Verteilung von Wasser und Land (England, Belgien, Sachsen) etc. Sie kann auch entstehen, ohne daß das Gebiet, auf dem sie sich findet, ausreichende Nährmittel für die vorhandenen Menschen zu liefern vermag, sei es, daß ihnen Industrie und Handel genügenden Erwerb verschaffen, oder daß ihnen Kolonialländer mit oder ohne Vergeltung die nötigen Mittel liefern (Verzehrung von in der Kolonie erworbenem Vermögen, Tribute etc.), oder daß ilmen das Ausland Zinsen zu zahlen hat. Es kann aber auch eine sehr dichte B. die Folge von leichtfertiger Eheschließung und Kinderzeugung sein. Fehlt es in einem solchen Fall an genügender wirtschaftlicher Rührigkeit und Tat kraft, so bildet sich eine Übervölkerung. Allgemein spricht man von Übervölkerung, wenn das eigne Wohngebiet nicht die genügenden Nährmittel liefern kann. Da aber auch in einem solchen Fall eine sehr dichte B. nicht allein dauernd ihren Unterhalt finden, sondern selbst in Wohlstand leben kann, so bezeichnet man als Übervölkerung im eigentlichen Sinn eine B., die so dicht ist, daß ein Teil derselben keine Gelegenheit zu genügendem Erwerb zu finden vermag. Allgemeine Merkmale derselben sind eine verhältnismäßig große Zahl von Armen, starke Auswanderung, Vergehen gegen das Eigentum etc. Nun ist der Spielraum der Ernährungsmöglichkeit ein verschiedener je nach natürlichen Verhältnissen, nach dem Stande der Kultur und des Verkehrs. Hiernach ist der Begriff der Übervölkerung ein durchaus relativer. Eine gewisse Dichtigkeit der B. mit städtischen Zentralpunkten ist sogar Vorbedingung für Entwickelung der Kultur; bei zu dünner B., möge sie unter günstigen oder ungünstigen natürlichen Verhältnissen leben, können wichtige geistige und wirtschaftliche Kräfte überhaupt nicht zur Ausbildung kommen. Innerhalb gewisser Grenzen ist daher auch die Dichtigkeit der B. ein Maßstab für die Kulturhöhe derselben. Doch ist bei einer Vergleichung verschiedener Ländergebiete auf die Beschaffenheit des Wohnraums und auf die Art der auf demselben gebotenen Erwerbsbedingungen Rücksicht zu nehmen. Die Zahlen an und für sich, insbes. Durchschnittszahlen aus großen Ländern, gewähren zur Vergleichung kein richtiges Bild. Bei Ländern mit großen unbewohnbaren Flächen ergibt leicht die Durchschnittszahl ein zu ungünstiges, die alleinige Betrachtung von Stadtgebieten (London. Paris, Insel Malta). die in engster Beziehung zu einem größern Hinterland stehen und erst mit demselben ein wirtschaftliches Ganze bilden, ein zu günstiges Bild. Im übrigen ist bei Betrachtung der Dichtigkeit einer B. immer der Zweck im Auge zu behalten, für den Vergleichungen vorgenommen werden (verwaltungsrechtliche, politische, Einfluß des Zusammenlebens auf Stand der Moral, der Bildung, wirtschaftliche, politische Kraft etc.).

Im Laufe des vorigen Jahrhunderts hat sich die Dichtigkeit der B. in mehreren Ländern erheblich erhöht. Es kamen auf 1 qkm Einwohner in:

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Geschlechter, Familienstand, Wohnplätze etc.

Die Verteitung der Geschlechter weist eine in den meisten Ländern wiederkehrende, noch nicht genügend erklärte Erscheinung auf. Schon seit Süßmilch beobachtete man bei den Geburten ein Übergewicht des männlichen Geschlechts über das weibliche. So kamen auf je 100 Mädchen 106 Knaben in Deutschland (1871–99), 107 in Österreich (1841–86), 107 in Italien (1863–86), 106 in ganz Mitteleuropa (1862–86); unter 100 stellte sich die Zahl in der Schweiz mit 99, in Griechenland mit 94. Man hat im Verlauf längerer Zeit für etwa 200 Mill. Geburten das Verhältnis 106: 100 gefunden. Bei unehelichen Geburten fand man vielfach eine verhältnismäßig größere Anzahl von Knaben als bei ehelichen. Diese Erscheinung suchten der Engländer Sadler, der Tübinger Professor Hofacker (»Über Eigenschaften, welche sich bei Menschen und Tieren vererben«, Tübing. 1828), in der neuern Zeit Göhlert (»Statistische Untersuchungen über die Ehen«, Wien 1870) mit dem Altersvorsprung des Vaters vor der Mutter und dessen Maß, in der neuern Zeit Büsing mit dem Unterschied im Abstand vom Alter der höchsten Fortpflanzungsfähigkeit zu erklären; doch ist die Richtigkeit dieser sogen. Hofacker-Sadlerschen Hypothese, die sich auf die Untersuchung einer begrenzten Zahl von Ehen stützte, vielfach in Zweifel gezogen worden. Mit wachsendem Alter tritt nun das umgekehrte Verhältnis ein. Das männliche Geschlecht weist eine größere Kindersterblichkeit auf. Dazu kommt später der Einfluß der männlichen Beschäftigungen (aufreibende Unternehmungen, gefährliche Gewerbe, Kriege), von Trunksucht, Ausschweifungen, Auswanderungen etc., während die Sterblichkeit des weiblichen Geschlechts mit seinem regelmäßigern Leben trotz der Entbindungsgefahren auch in höherm Alter eine geringere ist. So kamen auf 1000 männliche Personen weibliche

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Zwischen 15 und 20 Jahren tritt Gleichgewicht ein, später überwiegt das weibliche Geschlecht. Für ganz Europa ergeben sich im großen Durchschnitt aller Altersklassen 1022 weibliche Personen auf 1000 männliche. Dagegen überwiegt das männliche Geschlecht in Italien und den Balkanländern, ebenso nach den Ergebnissen von Zählungen in den andern Weltteilen. Es kommen auf 1000 weibliche Personen in Asien 1046, in Afrika 1033, im Amerika 1022, in Australasien 1143, auf der ganzen Erde 1015 männliche; z. T. sind diese Gegensätze durch die Wanderungen bedingt, bei denen das männliche Geschlecht vorherrscht. Im übrigen ist die Geschlechterverteilung im ganzen und in den einzelnen Altersklassen von Land zu Land verschieden.

Die Gestaltung der Altersklassenverteilung oder Altersgliederung ist charakteristisch für die gesellschaftliche Entwickelung. Ein Teil der B., die produktive Klasse, etwa die Alter 15–65 oder 20–70 umfassend, muß den jüngern und ältern ernähren. Nun standen von je 1000 Personen im Alter von

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49–66 Proz. der B. (ersteres in Amerika für die Altersklassen von 20–70, letzteres in Frankreich für die Alter von 15–65 Jahren) stehen hiernach im produktiven Alter. Die Höhe dieses Prozentsatzes ist bedingt durch Geburtenfrequenz und Sterblichkeit. Bei einer stabilen oder nur langsam anwachsenden B. mit natürlicher Absterbeordnung (Frankreich) ist die Relativzahl der Erwachsenen größer als da, wo die Zahl der Geburten die der Sterbefälle stark überwiegt (Deutschland, England), wo ungünstige Ereignisse (Kriege) starke Lücken gerissen und eine erhöhte Sterblichkeit zur Nachwirkung haben, wo ferner durch Zuwanderung junger Kräfte und reiche Gelegenheit für Verwertung derselben (Kolonisation) die Geburtenfrequenz eine große Höhe erreicht (Australien, Amerika). In Österreich haben sich die Gruppen des jugendlichen und des Greisenalters seit 1869 erheblich verstärkt. Auf 100 im erwerbsfähigen Alter stehende Personen entfielen 1869: 61,5,1880: 62,3 und 1890: 64,1 noch nicht oder nicht mehr erwerbende. Das Durchschnittsalter der Lebenden ist in Frankreich 31, in Deutschland 27, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika 23–24 Jahre.

Der Familienstand (Zivilstand) ist in sittlicher, kultureller und wirtschaftlicher Beziehung von hoher Bedeutung. Die Zahl der Familien und deren durchschnittliche Stärke ist nur aus den sogen. Familienregistern zu entnehmen, dabei Volkszählungen meist nur die »Haushaltungen« gezählt werden. In Deutschland leben 97 Proz. der B. in Haushaltungen von 2 und mehr Personen und 3 Proz. vereinzelt. Die Monogamie erhält zwar in der Gleichzahl der Geschlechter ihre natürliche Berechtigung; doch können bei ihr nicht alle Frauen zur Verheiratung kommen, zunächst weil das weibliche Geschlecht das männliche an Zahl fast überall überwiegt, dann weil das durch Eintritt der Geschlechtsreife, wirtschaftliche Kultur und Sitte bedingte heiratsfähige Alter, das im allgemeinen mit wachsender Entfernung vom Äquator steigt, beim männlichen Geschecht höher liegt als bei dem weiblichen. Dazu kommt, daß viele Männer wegen der Schwierigkeit, eine Familie zu erhalten, überhaupt ledig bleiben. Der Prozentsatz der Verheirateten von der Gesamtbevölkerung ist natürlich unter sonst gleichen Umständen da am größten, wo die Anzahl der Unerwachsenen am kleinsten ist. Für ganz Europa ergeben sich im Durchschnitt 34–35 Proz., für Frankreich 39 Proz. (bei 27 Proz. Unerwachsenen unter 15 Jahren), für Deutschland nach der Zählung von 1890: 33,93 Proz. (bei 35,13 Proz. unter 15 Jahren). Wichtiger als das Verhältnis der Verheirateten zur Gesamtbevölkerung ist ihr Verhältnis zur Zahl der Heiratsfähigen. Unter den letztern werden, da die Frauen jünger heiraten als die Männer, ihre Mortalität eine geringere ist und mehr Witwer sich wieder verheiraten, mehr Witwen als Witwer gezählt. In den 1870er Jahren kamen auf 1000

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8 Proz. der Männer, 12 Proz. der Frauen, die in die mittlern Jahre gelangen, bleiben überhaupt ledig.

Die Verteilung der B. nach den Wohnplätzen ist durch Entwickelung der Kultur und des Verkehrs, durch die Besonderheit des Berufs etc. bedingt. Die Ackerbaubevölkerung ist naturgemäß, und zwar je nach der Eigenart von Sitte, Recht und Wirtschaft teils in Dörfern, teils in Höfen über das ganze Land zerstreut. Besitz und Beschäftigung prägen ihr ihren eigentümlichen, der konservativen Gesinnung geneigten Charakter auf. Ziehen auch dem Landwirt viele Gewerbtreibende nach, und können heute bei dichterer B. und vervollkommtem Transportwesen viele Industrien auf dem Lande gedeihen, so haben doch Gewerbe und Handel ihren Hauptsitz in der Stadt. Letztere wird durch Konzentration der B. auf kleiner Fläche, die geistige und wirtschaftliche Kraft ungemein steigert, leicht tonangebend für das gesamte Leben eines Volkes. Zwar wird bei einem großen Teil der städtischen B. durch schlechte Wohnung, Mangel an Luft und Licht, aufreibenden Kampf ums Dasein die Sterblichkeit bedeutend erhöht, aber trotzdem wächst in vielen Ländern seit einer Reihe von Jahren die B. der Städte rascher an als die des flachen Landes, indem ihr letzteres einen Teil seines Zuwachses abgibt. In den meisten Ländern überwiegt die ländliche B. Rechnen wir zu letzterer die Bewohner aller Orte von weniger als 2000 Einw., so umfaßt sie Prozente von der gesamten B. in:

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Auf geistiges und physisches Leben der B. ist ferner von Einfluß die Wohnungs- und Behausungsziffer, d. h. die Zahl der Personen, die auf ein Haus entfällt. Am größten ist diese Ziffer in den Städten. Es wohnten in den 1880er Jahren in einem Hause Personen in:

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Bei Würdigung dieser Ziffern ist freilich auf Größe und Beschaffenheit der Wohnungen, Art des Zusammenwohnens etc. Rücksicht zu nehmen. – Die Gruppierung der B. nach Berufsklassen bietet große Schwierigkeiten und ist bei Vergleichungen zwischen verschiedenen Ländern nur mit Vorsicht zu benutzen (vgl. Beruf). Das Gleiche gilt von der Ermittelung der ökonomischen Lage, wie sie aus Steuerlisten, insbes. der Einkommensteuer, ermöglicht wird. Dieselbe gewährt nur ein in großen Zügen richtiges Bild. Dagegen können gewisse Eigenschaften der B. oder eines Teiles derselben, wie geistige und körperliche Gebrechen (Geisteskranke, Blinde, Taubstumme etc.), Farbe der Haare, Wuchs etc., die Gebürtigkeit (Ort der Geburt) etc., mit genügender Sicherheit erhoben werden.

Bewegung der Bevölkerung.

Die Bewegung der B. (Gang der B.), unter welcher man die in der Zahl und in der Verteilung der Klassen vor sich gehenden Veränderungen versteht, bezeichnet man als natürliche (innere Ursachen), sofern sie durch Geburten und Todesfälle, als räumliche (äußere Ursachen), sofern sie durch Umzug, Aus- und Einwanderung bedingt wird. Wesentlichen Einfluß auf die natürliche Bewegung der B. üben die Heiratsfrequenz (Trauungsziffer), d. h. die Zahl der jährlich neugeschlossenen Ehen im Verhältnis zur Volkszahl, das Heiratsalter und die mittlere Dauer der Ehen und der ehelichen Fruchtbarkeit. Die Trauungsziffer ist zunächst bedingt durch Geschlechts- und Altersgliederung. Nehmen wir als heiratsfähiges Alter der Männer die Zeit von 25–30 Jahren an, so könnte unter Einrechnung der zweiten Ehen die Trauungsziffer in England, Deutschland, Frankreich etwa 8,5 auf Tausend erreichen. In Wirklichkeit ist sie von dieser Zahl nicht sehr verschieden. Sie war in den 1870er Jahren in Deutschland 8,9, in der Schweiz 7,6, in England 7,3, Belgien 7,3, Norwegen 7, Schweden 6,6 und in Frankreich, wo die jüngern Altersklassen schwach vertreten sind, 8 auf Tausend. Abweichungen von diesen Zahlen, die übrigens auch von klimatischen Verhältnissen, Sitte, Rechtsordnung etc. abhängen, werden insbes. durch Wechsel in Gunst und Ungunst der Wirtschaftsverhältnisse bedingt. Im allgemeinen sind Ehelosigkeit und spätes Heiraten ein Zeichen ungünstiger wirtschaftlicher Lage, sie können jedoch auch eine Folge sinkender Moralität sein, ebenso wie eine starke Zunahme der Heiratsfrequenz, die meist eine Folge wirtschaftlicher Besserung ist, auch durch wachsenden Leichtsinn oder durch die Aufhebung gesetzlicher Ehebeschränkungen (Deutschland, Gesetz vom 4. Mai 1868 und seine Wirkung) veranlaßt sein kann. Auf 10,000 Seelen kamen Heiraten:

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Die mittlere Dauer einer Ehe schwankt zwischen 21 und 26 (Wappäus); für Mitteleuropa berechnet sie sich auf 24–25 Jahre, die der ehelichen Fruchtbarkeit auf 12 Jahre. Das Durchschnittsalter der heiratenden Männer, vermehrt um die Hälfte der Fruchtbarkeitsperiode der Ehe (mittlerer Altersabstand zwischen Vater und Kindern), beziffert sich auf 34–35 Jahre (gleich einer Generation). Unter 1000 Eheschließungen waren seit einer längern Reihe von Jahren in Mitteleuropa 106 zwischen Witwern und Mädchen, 53 zwischen Witwen und Junggesellen, 30 zwischen Witwern und Witwen, 811 zwischen Junggesellen und Jungfrauen.

Die Geburtenfrequenz (Geburtenziffer, Nativität), die das Verhältnis der Geburtenzahl zur Volksmenge angibt, hängt zunächst von der Zahl der im gebärfähigen Alter stehenden Frauen ab. Die Geschlechtsreife beginnt in wärmern Ländern früher (mit 9–10 Jahren im tropischen und suptropischen Klima, mit 13–15 in Südeuropa, mit 17–18 Jahren in der nördlichen gemäßigten Zone), endigt aber auch früher als in kältern. In Mitteleuropa umfaßt sie die Altersklassen von 18–40 Jahren mit 16,5 Proz. der B. Würde jede dieser Frauen alle 2 Jahre gebären, so käme jährlich auf 12 Einw. eine Geburt. Diese Ziffer wird in der Wirklichkeit nicht erreicht, einmal da viele Frauen, weil unfruchtbar oder unverheiratet, kinderlos bleiben, dann weil die durchschnittliche Fruchtbarkeit der Ehen eine weit geringere ist als die bezeichnete. Mit Einschluß der Totgebornen kamen auf 1000 Einw. Geborne im Durchschnitt der Jahre:

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Im Deutschen Reich stellte sich die Ziffer im Durchschnitt der Jahre 1851–99 auf 38,38. Auf eine Ehe entfielen in Deutschland in dem Zeitraum von 1875–1884 durchschnittlich 4,6, in Frankreich 3,1 Geburten.

Am geburtenreichsten sind die slawischen Länder, insbes. Rußland; denselben folgen die germanischen, dann die romanischen Länder. Allgemeine Gesetze über die Abhängigkeit der Geburtenfrequenz von Klima, Stand, Beruf, Wohnort etc. lassen sich nicht aufstellen; dagegen wird dieselbe unzweifelhaft beeinflußt von nationalen Anschauungen und Sitten (Sparsamkeit und Willenskraft im Gegensatze zu einer indolenten, entsittlichten B.), vom Wechsel der wirtschaftlichen Existenzbedingungen, Leichtigkeit des Erwerbs (insofern auch von der Volksdichtigkeit) etc., indem hierdurch auch die Heiratsfrequenz bedingt wird. Oft läßt sich eine Wechselwirkung zwischen Fruchtbarkeit und Kindersterblichkeit nachweisen, indem eine hohe Geburtenziffer mit Leichtsinn und mangelhafter Kinderpflege Hand in Hand geht und so die Sterblichkeit vergrößert (insbes. große Kindersterblichkeit bei unehelichen Geburten, deren Zahl durch Sitte, Erbordnung, gesetzliche Ehebeschränkungen etc. bedingt wird), eine große Sterblichkeit aber wieder leicht eine große Geburtenzahl zur Folge hat, durch die entstandene Lücken ausgefüllt werden. Im übrigen kann eine hohe Geburtenziffer an und für sich weder als günstig noch als ungünstig betrachtet werden. Ihre Bedeutung läßt sich nur beurteilen im Zusammenhang mit den gesamten sittlich-sozialen Verhältnissen, dann insbes. auch mit der Sterblichkeitsziffer (s. Sterblichkeit) der ganzen B. und ihrer einzelnen nach Geschlecht, Alter, Wohlstand etc. gebildeten Gruppen. Neben der Geburtenziffer ist die Sterblichkeit ein wichtiger Faktor des Ganges der B., die zu- oder abnimmt, je nachdem die Zahl der Geburten die der Todesfälle übersteigt und umgekehrt, wobei von großer Wichtigkeit ist, wie sich infolge derselben die Gliederung der B. gestaltet. Es war, bezogen auf 1000 Personen des mittlern Standes der B., im Durchschnitt der Jahre 1873–86 in:

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Durch die räumliche Bewegung der B. (Aus- und Einwanderung) wird in vielen Fällen nur der augenblickliche Stand derselben geändert. Insbesondere füllen sich in vielen Ländern die durch Auswanderung entstandenen Lücken sehr rasch wieder durch den Überschuß der Geburten über die Sterbefälle aus (Deutschland, wo die Verluste durch Wanderung in den vier Jahrzenten von 1851–90 im jährlichen Durchschnitt 2,5, 2,2, 1,8, 2,8 auf Tausend betrugen, England), und nur in abnormen Fällen reicht ein solcher Überschuß, wenn überhaupt vorhanden, hierfür nicht aus (Irland nach 1840, die Massenwanderungen des Altertums und Mittelalters). Von größerm Einfluß als für Länder, die Auswanderer abgeben, ist die räumliche Bewegung für die Länder junger Kultur, die den Auswandererstrom, meist jugendliche, frische Kräfte, empfangen und mit diesem nicht allein direkt einen starken Bevölkerungszuwachs, sondern auch die Anwartschaft auf starken Nachwuchs erhalten (vgl. Auswanderung und Kolonien).

Das wirkliche Wachstum der B. größerer Länder weist innerhalb längerer Perioden eine gewisse Stetigkeit auf. Diese Gesetzmäßigkeit ist darin begründet, daß die wichtigsten Ursachen der natürlichen und räumlichen Bewegung sich nicht in kurzer Frist ändern. Fast in allen Kulturstaaten hat sich die B. im Laufe des vorigen und z. T. auch des 18. Jahrh. vermehrt. So war durchschnittlich jährlich die Zunahme in:

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Die Schnelligkeit der Zunahme war allerdings in den einzelnen Jahren und Perioden nicht immer gleichgroß. So war die jährliche Zunahme in Deutschland 1821–25: 13,4 auf Tausend, 1851–55: 4,0 auf Tausend, 1896–1900: 15,0 auf Tausend; in Frankreich 1800–1860: 4,8 auf Tausend u. 1860–76: 0,7 auf Tausend. Ein sehr starkes Wachstum weisen die Vereinigten Staaten auf. Die B. derselben war 1790 (auf 40,000 QM.) 3,9 Mill., 1890 (auf 170,000 QM.) 65 Mill.; sie hatte sich also um 28,5 auf Tausend vermehrt, was im wesentlichen der Einwanderung zu verdanken ist. Das Gleiche gilt von Australien, das 1828: 36,598 und 1890: 3,916,000 Einw. zählte. Eine fortwährend anwachsende B. muß in bestimmter Zeit sich verdoppeln. Diese Zeit, die Verdoppelungsperiode (für 0,5,1,2 Proz. je 139,69,35 Jahre), läßt sich jedoch für die Zukunft auf Grund eines seither wirklich stattgehabten Wachstums nicht berechnen, da aus der seitherigen Bewegung der B. nicht auf diejenige eines längern Zeitraums der Zukunft geschlossen werden kann, wenn auch anzunehmen ist, daß eine Bewegungstendenz unter Schwankungen eine Reihe von Jahren anhalten dürfte, sofern keine außerordentlichen störenden Ursachen dazwischen treten.

Eine Abnahme der B. ist in den letzten Jahrzehnten nur in wenigen Ländern eingetreten. Sie verminderte sich im Durchschnitt jährlich in Irland 1841–1886 um 20,8 auf Tausend (1841–51 um 22,3 auf Tausend), dann 1871–75 in Elsaß-Lothringen um 29 auf Tausend, Mecklenburg-Strelitz um 34 auf Tausend, in Waldeck um 67 auf Tausend. Ursache hiervon war die starke Auswanderung. Bei unzivilisierten Völkerschaften kann diese Erscheinung bis zu vollständiger Vernichtung durch Mangel an Lebenskraft (weniger Geburten, größere Sterblichkeit bei nachteiliger Lebensweise) hervorgerufen werden (Aussterben von Indianerstämmen, Bewohnern einiger Südseeinseln). Insbesondere ist dies der Fall, wenn sich mit denselben kräftigere Völker vermengen (Kolonisation). Bei unentwickeltem Verkehr sowie mangelhaften Kenntnissen und Anstalten für Gesundheitspflege können einzelne widrige Ursachen plötzlich starke Verminderungen hervorrufen und so auch für längere Zeit einen ungünstigen Einfluß ausüben. Epidemien, Kriege, Mißwachs und Teuerung raffen oft einen großen Teil der B. hinweg. Ein Beispiel hierfür bietet der indische Zensus von 1901. Nach demselben hat sich die Bevölkerung der Provinz Bombay z. B. von 18,851,044 Menschen 1891 auf 18,543274 vermindert. Nach Epidemien (Pest), die im Mittelalter (1347–51 etc.) heftig wüteten, trat zwar eine größere Heirats- und Geburtenfrequenz ein: doch füllte sich die Lücke oft nur langsam, zumal wenn Mißwachs und lange dauernde Kriege noch dazukamen. Letztere wirkten weniger durch direkte Tötungen und Hungertod als dadurch, daß sie durch Mangel an Nahrung und Pflege, Krankheiten etc. Siechtum und Sterblichkeit zunächst in den Reihen des schwächern Teiles der B. erhöhten. Wirkten mehrere solcher mächtigen Ursachen zusammen, wie Armut, Krankheit, Entsittlichung, harter politischer Druck, so konnten sie geradezu eine Entvölkerung hervorrufen (Persien, Kleinasien).

Im Mittelalter war Europa nach allen Anzeichen wohlbevölkert. Später trat jedoch entschieden Rückgang und Verfall ein (Spanien nach der Zeit der Araber, Italien, im Osten die Mongolen- und Türkenwirtschaft). Insbesondere in Deutschland hatte der Dreißigjährige Krieg die B. um 50 Proz. vermindert (1618: 25 Mill. gegen 12 Mill. Einw. 1648), viele Landstriche waren vollständig verheert und menschenleer. Eine günstigere Entwickelung brachte die zweite Hälfte des 18. Jahrh. Gute Ernten, Fortschritte der Landwirtschaft, Entwickelung von Handel und Industrie, zumal in England bei freier wirtschaftlicher Bewegung, beförderten das Wachstum der B. und die Bildung von industriellen städtischen Zentralpunkten, damit aber auch die Anhäufung von Not und Elend auf kleinem Raum.

Bevölkerungstheorie und Bevölkerungspolitik.

Diese Erscheinungen übten einen mächtigen Einfluß auf die allgemeinen Anschauungen und die Regierungspolitik aus. Die Populationisten des Merkantilsystems (s. d.) wollten z. T. in ähnlicher Weise, wie dies schon im Altertum (z. B. durch die Lex Julia et Papia Popaea) und auch in Städten des Mittelalters durch Begünstigung der Verheirateten geschehen, durch Förderung der Ehen, Prämiierung des Kinderreichtums, Anreiz zum Einwandern etc. eine Mehrung der gesunkenen Volkszahl veranlassen. Ein Rückschlag machte sich dagegen in dieser Beziehung bemerklich, als Ende des 18. Jahrh. das Wachstum der B., zumal in Städten, die Angst vor Übervölkerung an Stelle der frühern Überschätzung der Volkszahl treten ließ. Jener Zeit verdankt die Bevölkerungstheorie von R. Malthus (s. d.) ihre Entstehung. Nach Malthus ist die Vermehrung der B. von der Menge der zu beschaffenden Unterhaltsmittel abhängig. Letztere lassen sich nun nicht beliebig mehren. Wenn auch noch unbebauter Boden vorhanden ist und Verbesserungen möglich sind, so gibt es doch jeweilig eine vom Stande der Technik und der Kultur abhängige unüberschreitbare Grenze für die Vermehrung. Eine unbedingte Zunahme der B. würde demnach schließlich zu einem Mißverhältnis zwischen B. und Unterhaltsmitteln führen. Zur Veranschaulichung seiner Grundgedanken bediente sich Malthus mathematischer Formeln, ohne sie jedoch selbst für genau zu halten. Die Nahrungsmittel können in arithmetischer Progression zunehmen, während die B. die Neigung hat, sich in geometrischer Reihe zu vermehren. Dieselbe nimmt auch unfehlbar zu, sobald ihr mehr Unterhaltsmittel geboten werden können. Dem natürlichen Vermehrungstrieb der B. stehen nun verschiedene Hemmnisse (checks) entgegen, die teils in menschlichen Handlungen (sittlich zulässige und unsittliche), teils in Wirkungen der Natur bestehen. Dieselben sind präventive, indem sie die Entstehung einer größern B. verhüten (Erwägungen der Sittlichkeit oder Klugheit, Vorsicht in der Eheschließung, späteres Heiraten, geringere eheliche Fruchtbarkeit, unnatürliche Laster, Prostitution, geschlechtliche Ausschweifungen), oder repressive, indem sie eine bereits vorhandene B. vermindern (Auswanderung, Krieg, Mangel, Elend, Krankheit, Fruchtabtreibung, Kindertötung, Kinderaussetzung). Die repressiven Hemmnisse machen sich in erster Linie bei den schwächern Elementen der Gesellschaft geltend, insbes. bei den Kindern der Arnten, deren Sterblichkeit durch Mangel an Nahrung und Pflege erhöht wird. Den Wirkungen derselben soll aber der Mensch durch sittlich-vernünftiges Verhalten (Enthaltsamkeit) vorbeugen, wobei Malthus hervorhebt, daß in diesem Fall auch die Lage der untern Klassen sich verbessere. – Eine Bevölkerungspolitik, die auf Wachstum der B. bedacht ist und durch verkehrte Maßregeln (falsche Armenpflege) leicht nur zur Entstehung einer unselbständigen, krankhaften B. (Proletariat) Veranlassung gibt, wird von Malthus als unnütz und schädlich verworfen. Die Natur sorge schon von selbst für eine genügende B. Darum solle der Staat nur gegen drohende Übervölkerung durch Beschränkung leichtsinniger Eheschließungen, vernünftige Armengesetze etc. einschreiten. Diesen Anschauungen entsprachen die vielfach bestehenden, freilich weniger der Furcht vor Übervölkerung, als vielmehr der Vorsorge gegen Überlastung durch Armenunterstützungen entsprungenen, erst im 19. Jahrh. beseitigten Beschränkungen in der Freiheit der Niederlassung und der Verehelichung (Heiratserschwerung durch Verpflichtung zum Nachweis genügender Erwerbsfähigkeit, durch Festsetzung eines hoch gegriffenen Normaljahres etc.). Die gegen Malthus erhobenen Einwendungen waren meist verfehlt. Die optimistisch-utilitaristische Weltanschauung der Theologen begnügte sich mit dem Hinweis auf das biblische Wort: »Seid fruchtbar und mehret euch«; Dühring stellte den Satz auf, mit der Zunahme der B. werde auch die Bevölkerungskapazität größer, es wachse mit ihr deren wirtschaftliche Kraft und damit der Spielraum der Ernährung. ein Satz, der nur relativ richtig ist; Sozialisten (so auch Fourier) vermeinten, eine bessere Organisation der Gesellschaft werde alle nötigen Existenzmittel liefern, eine optimistische und unerwiesene Behauptung, die erst in der Ansicht eine beachtenswerte Stütze erhielt, eine Zügelung in der Volksvermehrung trete ohne Mitwirkung des menschlichen Willens von selbst durch ein Naturgesetz ein, da die Fruchtbarkeit der Menschen um so mehr abnehme, je besser sie sich nährten (Doubleday, Sadler), bez. da die Entwickelung des Nervensystems und der geistigen Tätigkeit im umgekehrten Verhältnis zur Fortpflanzungsfähigkeit stände und die Menschen sich um so weniger vermehrten, je mehr sie sich geistig entwickelten (Carey, Spencer). Die Richtigkeit dieser Theorien bedarf jedoch noch der Bestätigung, während die Hauptzüge der Malthusschen Bevölkerungslehre mit den nötigen Verbesserungen, wie sie Psychologie und Statistik an die Hand geben, allgemein anerkannt sind. Nicht so die Folgerungen, die Malthus aus seiner Lehre für die praktische Politik gezogen hat. Die Frage, woran eine wirklich bedenkliche Übervölkerung zu erkennen (intensiver Bodenbau, Auswanderung, hohe Preise der Lebensmittel sind hierfür keine zureichenden Anzeichen), und wie ihr zu begegnen, ist überhaupt keine einfache. Kann auch durch wirtschaftliche und soziale Mißstände sich eine örtliche Übervölkerung mit Massenarmut bilden, so ist dieselbe doch meist nur von vorübergehender Bedeutung. Änderungen in der Technik (Industrie, Landwirtschaft, Transportwesen) und in der Rechtsordnung können leicht wieder für eine größere B. Raum schaffen oder eine angemessene örtliche Ausgleichung ermöglichen. Dazu kommt, daß bis zu einer gewissen veränderlichen Grenze die zunehmende Dichtigkeit der B. selbst Bedingung für Mehrung der Unterhaltsmittel ist. Auch zeigt die Wirklichkeit, daß bei gesitteten Völkern keineswegs eine Steigerung des Wohlstandes eine solche Volksvermehrung hervorzurufen pflegt, daß die wirtschaftliche Lage wieder auf den alten Stand herabgedrückt wird. Alle Spekulationen auf dem gedachten Gebiet sind darum eitel, weil man nicht imstande ist, zu ermessen, welche B. etwa eine den Verhältnissen der Zukunft entsprechende ist, und weil überdies die Erde noch so viel Raum für Besiedelung bietet, daß wenigstens zur Zeit noch die Angst vor Übervölkerung praktisch illusorisch ist. Die Tätigkeit des Staates wird sich im wesentlichen auf Regelung von Versorgungspflichten, Versicherungswesen, Armenpflege, Medizinal-, Sittenpolizei, Auswanderung und Kolonisation zu beschränken haben, im übrigen aber werden Gesittung und wirtschaftlicher Trieb der Gesellschaft das Meiste und Beste tun müssen, indem das Anpassen der B. an die jeweilig produzierbare Menge von Nahrungsmitteln, wenn auch teils unter fortwährenden und damit weniger fühlbaren Einschränkungen, so doch auch teils ohne eigentlichen Druck stattfindet. Aus diesen Gründen steht auch der Neomalthusianismus auf keinem festen Boden, unter welchem Titel die Lehre von Malthus in eigenartiger Weise zuerst durch eine englische Gesellschaft, die Malthusian League (seit 1877) vertreten wird, die im Interesse der Erleichterung für Eltern und Volk (Last des Haushaltes, kleine Erbteile bei großer Kinderzahl) bewußte Beschränkung der Kinderzahl in der Ehe durch präventiven, die Empfängnis verhindernden geschlechtlichen Verkehr predigt, da die von Malthus geforderte Enthaltsamkeit (Hinausschieben der Eheschließung, eventuell Ehelosigkeit) geschlechtliche Laster und Krankheiten nach sich ziehe. Der Neomalthusianismus hat auch auf dem Kontinent (in Holland, Deutschland, Italien) zahlreiche Anhänger gefunden und zerfällt jetzt in verschiedene Richtungen. Die extreme, der die meisten Engländer, aber auch einige Deutsche angehören, glaubt, daß alle sozialen Mißstände von der zu großen Bevölkerungszahl herrührten und durch Befolgung ihrer Vorschläge beseitigt würden. Die gemäßigte Richtung (I. St. Mill, Mantegazza, Zacharias) sieht in letzterer wenigstens ein wichtiges Mittel zur Beseitigung mancher Schäden. Auch die sozialistischen Anhänger des Neomalthusianismus (Kautsky) glauben, daß in der neuen (sozialistischen) Gesellschaft eine Regelung des Bevölkerungsstandes durch den präventiven Verkehr nötig sei, um die bestehenden Übel dauernd zu beseitigen. Man wird bei der Beurteilung solcher Vorschläge nicht außer acht lassen dürfen, daß sie gerade bei dem Teile der B. unwirksam sind, von dem die eigentliche Volksvermehrung ausgeht. Weiter fördern sie die Unsittlichkeit, und bei ihrer Durchführung droht die Gefahr einer Bevölkerungsminderung sowie als deren Folge einer Entvölkerung.

Vgl. außer den oben (S. 788) angeführten Werken namentlich Malthus, An inquiry into the principles of population (Lond. 1798, neue Ausg. 1890; deutsch von Stöpel, 2. Aufl., Berl. 1900); Garnier, Du principe de population (2. Aufl., Par. 1885); Sadler, The law of population (Lond. 1830); Doubleday, The true law of population (2. Aufl., das. 1854); Spencer, Theory of population (das. 1852); Gerstner, Bevölkerungslehre (Würzb. 1864); Kautsky, Der Einfluß der Volksvermehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft (Wien 1880); v. Fircks, Bevölkerungslehre u. Bevölkerungspolitik (Leipz. 1898); G. v. Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre (Freiburg 1895–97, 2 Bde.); Pöhlmann, Die Übervölkerung der antiken Großstädte (Leipz. 1884); Beloch, Die B. der griechisch-römischen Welt (das. 1886); Jastrow, Die Volkszahl deutscher Städte zu Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit (Berl. 1886); Levasseur, La population française (Par. 1889–1891, 3 Bde.); Cheysson, La question de la populationen France et à l'étranger (das. 1885); Art. »Bevölkerungswesen« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften« (2. Aufl., Bd. 2, Jena 1899). – Statistik: H. Wagner und Supan (früher Behm), Die B. der Erde (Ergänzungshefte zu »Petermanns Mitteilungen«, bisher 11 Bde., Gotha 1872–1901); Hübner-Juraschek, Geographisch-statistische Tabellen aller Länder der Erde (Frankf., seit 1851 jährlich). – Über den Neomalthusianismus vgl. Annie Besant, Das Gesetz der B. (deutsch von G. Stille, Berl. 1881); G. Stille, Die Bevölkerungsfrage (das. 1879); Derselbe, Der Neomalthusianismus (das. 1880); Mantegazza, Physiologie der Liebe (deutsch, 10. Aufl., Jena 1898); Kötzschke, Die Gefahren des Neumalthusianismus (Leipz. 1895).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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