Ungehorsam

Ungehorsam

Ungehorsam (Kontumaz, s. d.), in der Rechtssprache das Nichtbefolgen einer richterlichen Auflage, sei es einer Ladung oder einer richterlichen Anweisung zur Vornahme oder Unterlassung einer Handlung. Die Folgen, die der U. im Strafprozeß nach sich zieht, sind von denjenigen verschieden, denen der Ungehorsame (Kontumax) im bürgerlichen Rechtsstreit ausgesetzt ist. Denn der moderne Strafprozeß wird von dem Grundsatz der Mündlichkeit des Verfahrens beherrscht, und diesem entspricht die Regel, daß die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung notwendig ist. Nur ausnahmsweise kann bei U. des Angeklagten in dessen Abwesenheit verhandelt und entschieden werden. Die deutsche Strafprozeßordnung unterscheidet dabei zwischen dem abwesenden und dem ausgebliebenen (flüchtigen) Angeklagten. Als abwesend gilt der Angeklagte, wenn sein Aufenthalt unbekannt ist, oder wenn er sich im Ausland aufhält und seine Gestellung vor das zuständige Gericht nicht ausführbar oder nicht angemessen erscheint. Gegen den abwesenden Angeklagten ist eine Hauptverhandlung nur dann statthaft, wenn die strafbare Handlung mit Geldstrafe oder Einziehung bedroht ist, oder wenn es sich um eine Person handelt, die sich der Wehrpflicht entzogen hat. In solchen Fällen ist eine öffentliche Ladung notwendig. Gegen den abwesenden Angeklagten kann eine Beschlagnahme einzelner Vermögensstücke oder des ganzen Vermögens verfügt werden. Gegen einen ohne Entschuldigung ausgebliebenen Angeklagten wird ein Vorführungs- oder ein Haftbefehl erlassen. In seiner Abwesenheit darf nur dann verhandelt werden, wenn seine Tat mit Hast, Geldstrafe oder Einziehung bedroht ist, oder wenn sich der Angeklagte nach seiner Vernehmung aus der Hauptverhandlung entfernte, endlich auch in leichtern Fällen, wenn das Gericht ihn wegen allzu großer Entfernung seines Aufenthaltsorts vom Erscheinen entbunden hat. Vgl. Deutsche Strafprozeßordnung, § 318 ff., 470 ff., 229 ff. Die österreichische Strafprozeßordnung trifft besondere Bestimmungen für das Verfahren gegen Unbekannte, Abwesende und Flüchtige während der Voruntersuchung (§ 412–420), nach dem Schluß der Voruntersuchung (§ 421) und für ein Ungehorsamverfahren gegen Abwesende und Flüchtige (§ 422–428), aus denen hervorzuheben ist, daß die Anklageschrift an den für den Abwesenden zu bestellenden Verteidiger zuzustellen ist, der Einspruch erheben kann, und daß die Hauptverhandlung nur vorgenommen werden kann, wenn es sich um ein höchstens mit fünfjähriger Kerkerstrafe bedrohtes Verbrechen oder um ein Vergehen handelt und der Angeklagte bereits in der Voruntersuchung vernommen und ihm die Vorladung zur Hauptverhandlung noch persönlich zugestellt wurde.

Im bürgerlichen Rechtsstreit besteht dagegen das System, daß die Partei, die innerhalb der dazu gesetzten Frist oder in dem dazu bestimmten Termin eine Rechtshandlung nicht vornimmt, wenn die Vornahme der Rechtshandlung ihr Recht war (wie z. B. die Einlegung eines Rechtsmittels), mit der Vornahme ausgeschlossen (präkludiert) wird, während, wenn die Vornahme der Rechtshandlung ihre Pflicht war (wie z. B. die Erklärung auf gegnerische Behauptungen), angenommen (fingiert) wird, sie habe die Rechtshandlung in einer ihr ungünstigen Weise vorgenommen (z. B. Annahme des Zugeständnisses gegnerischer Behauptungen, sogen. poena confessi). Auf diesen Ungehorsamsfolgen (poenae contumaciae) baut sich dann das im Falle gänzlicher Untätigkeit einer Partei ergehende Versäumnisurteil auf (s. Versäumnis, Declaratio contumaciae und Einspruch). U. gegenüber einem rechtskräftigen Urteil hat die Einleitung der Zwangsvollstreckung (s. d.) zur Folge. Die österreichische Zivilprozeßordnung kennt nur ausnahmsweise wirkliche Ungehorsamsfolgen, sonst nur Folgen der Versäumung, die allgemeine des Ausschlusses und besondere (s. Versäumnis). Ungehorsamsfolgen treten ein, wenn dem Gegner die Vorlegung einer Urkunde, deren Vorlage er nicht verweigern darf, aufgetragen ist und er sie trotzdem nicht vorlegt sowie wenn seine eidliche Vernehmung darüber, ob er die Urkunde besitze oder wisse, wo sie sei, oder sie etwa beseitigt habe, angeordnet ist und er die Aussage ablehnt (§ 303–307). Ferner kann einem Advokaten, dem eine Urkunde von Hand zu Hand mitgeteilt wurde, aufgetragen werden, dieselbe unverzüglich zurückzugeben. Kommt er dem diesfälligen Beschluß nicht nach, so ist dieser sofort vollstreckbar (§ 83). In die Exekution rechtskräftiger Urteile spielt die Ungehorsamsidee nicht hinein. – Die öffentliche Aufforderung zum U. gegen Gesetze oder Verordnungen oder gegen obrigkeitliche Anordnungen wird nach § 110 des Reichsstrafgesetzbuches mit Geldstrafe bis zu 600 Mk. oder mit Gefängnis bis zu 2 Jahren bestraft. Ebenso wird mit Gefängnis bis zu 2 Jahren bestraft (§ 112) die Verleitung zu militärischem U., nach § 3533 mit Gefängnis oder Geld bis zu 5000 Mk. der U. im Amte von Beamten, die bei einer deutschen Gesandtschaft beschäftigt sind, und nach § 360, Ziff. 10, mit Geldstrafe bis zu 150 Mk. oder Hast der grundlose U. gegen die Aufforderung der Polizeibehörde oder deren Stellvertreter, bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr und Not (Brand, Überschwemmung etc.) Hilfe zu leisten. Sonst wird nach Reichsrecht U. gegen obrigkeitliche Anordnungen nur mit sogen. Ordnungs- oder Ungehorsamsstrafen bestraft. Verabredung zum U. überhaupt ist kriminell nicht strafbar. – Gegen Zeugen und Sachverständige werden Ungehorsamsstrafen bis zur Höhe von 300 Mk. ausgesprochen, falls sie trotz ordnungsmäßiger Ladung nicht erscheinen, eventuell können sie, falls diese Strafen fruchtlos bleiben, zwangsweise vorgeführt werden. Vgl. Zivilprozeßordnung. § 380, 381; Reichsgesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit, § 15; Strafprozeßordnung, § 50, 69 u. 77. Vgl. v. Nostitz-Wallwitz, Das militärische Delikt des Ungehorsams (Leipz. 1906).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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