Stickerei

Stickerei

Stickerei, eine Kunst, die durch Hand- oder Maschinenarbeit auf einem Gewebe, Leder etc. mit Nadel und Faden Muster erzeugt, deren Elemente, die Stiche, als eine Art von Mosaik in Fäden der künstlerischen Wirkung von Malerei und Plastik vergleichbar sind. In diesem Sinne werden Flach- und Reliefstickereien unterschieden. Der Plattstich, die weitgehendste Art der S., entsteht auf einem Grunde, dessen Textur nicht berücksichtigt wird, in fortlaufenden Stichen, die Linien bilden (Stielstich), oder in Stichen nebeneinander, die Farbenflächen in Art der Malerei (s. Nadelmalerei) darstellen; werden diese unterlegt, so spricht man von Reliefstickerei. Hinsichtlich der Flächenbildung steht dem Plattstich der Kettenstich oder das Tamburieren nahe. Der Kreuzstich ist ein Ausfüllen von kleinen Quadraten, die auf der Fläche (meistens durch die Struktur des Gewebes) vorgezeichnet sind und ein Netz oder den Kanevas bilden; hierdurch ist er im Gegensatz zum Plattstich auf geometrische Mustergebung angewiesen. Vgl. hierzu die Artikel »Leinenstickerei, Kanevasstickerei« und deren Abarten: »Holbeinstich, Leinendurchbruch, Hardanger Arbeit, Neudeutsche Stickerei, Weißstickerei, Webstich«. Über das Aufnähen von Stoffen vgl. die Artikel »Applikationsarbeit, Leder-, Rescht- und Tuchmosaik«; über aufgenähte Perlen als Stickmuster s. Perlenstickerei, Das Aufnähen von Schnüren und Fäden wird besonders für Metallgespinste oder stärkere Garne verwendet, die nicht leicht durch den Grundstoff zu verstechen sind. Die eigentliche Goldstickerei unterscheidet: die Anlegetechnik, die im einfachen Aufnähen der Metallfäden oder -schnüre besteht, die Kordeltechnik, der vorigen verwandt, doch über gespannte Schnureinlagen (Kordeln) angelegt, das Stechen, wobei die Muster mit geraden oder schrägen Plattstichen bedeckt werden, das Sprengen, wobei der Goldfaden mittels der Spindel über die zu stickenden Flächen, die eine steife Unterlage erfordern, hin- und zurückgeführt und nach jedem Legen mit Stichen festgehalten wird, Phantasiestickereien mit Kantille und Flittern, die durch Aufnähen das Muster reicher gestalten. Der Steppstich erzielt eine reliefartige Musterung, wenn das Abnähen zweier Stoffflächen über Zwischenlagen von Schnürchen (s. Pikeestickerei) geschieht. Als Hauptsticharten für die Maschinenstickerei, 1828 von Josua Heilmann zu Mülhausen i. E. erfunden, kommen in Betracht: der Plattstich und der zu dessen Nachahmung abgesonderte Doppelsteppstich, der Ketten- oder Tamburierstich und der aus diesem hervorgegangene Feston- oder Langettenstich. Die Plattstich- und Steppstichstickmaschinen dienen auch zur Herstellung von Ätz- oder Luftspitzen, die zuerst 1883 in St. Gallen erzeugt wurden. Die kunstgeschichtliche Darstellung der S. ist für das Altertum auf Schilderungen der Schriftsteller jener Zeit und auf die Denkmäler der Malerei und Plastik angewiesen; hierbei ist unter den Behängen für Tempel und Königspaläste, wie sie die Alabasterplatten von Assyrien und Babylon sowie die ägyptischen Wandgemälde vorführen, zwischen gewirkten und gestickten zu unterscheiden. Die ältesten erhaltenen Originale der spätägyptischen Gräberfunde (s. Koptische Kunst) zeigen, daß der eigentlichen S. eine gobelinartige Wirkerei (s. Gobelins, Kilim, Nordische Kunstweberei, Schichtweberei) voranging, bei der Wolle, Leinen und Baumwolle das Material bildeten; frühzeitig erschien auch mit der Seide das Gold: zuerst als Häutchen (sogen. cyprisches), später als gezogener Metalldraht. Die Griechen und Römer schrieben die Kunst des Stickens den Phrygiern zu (daher opus phrygium während der Glanzperiode des alten Roms). Über die verschiedenen Arten der S. des frühen Mittelalters vgl. den Artikel »Opus«. Berühmt sind aus dem 10. Jahrh. die von Benediktinermönchen gefertigten englischen Stickereien, besonders aber die Arbeiten der im 12. Jahrh. unter arabischem Einfluß gegründeten Werkstätten von Palermo, aus denen die Stickereien der deutschen Reichskleinodien (s. d., Bd. 4, S. 732) stammen: sie bezeichnen den Höhepunkt technischer und künstlerischer Vollendung in der S. der romanischen Periode; derartige Arbeiten wurden vornehmlich unter Anwendung von Goldfäden, getriebenen Silberplättchen, echten Perlen und Edelsteinen, für den Gebrauch in Kirchen, für Fürsten und ihre Umgebung, in Klosterwerkstätten und Schlössern hergestellt. Im 13. Jahrh. kamen die Stickereien auf Leinwand (s. Durchbrucharbeit und Weißstickerei) und geteiltem Stramingrund (s. Kanevasstickerei) in Gebrauch; auch erschienen Bildstickereien in Tamburierarbeit, die den Grund völlig bedeckte und den Eindruck von Mosaik oder Glasmalerei machte. Hieran schließen sich die Kunststickereien der rheinischen Werkstätten (Köln u. a.) nach Entwürfen der Malerschulen in Köln und Prag, denen im 15. Jahrh. solche der niederländisch-burgundischen (s. Burgundische Gewänder) Meister folgten. Der Wetteifer der S. mit der Malerei und Plastik führte bisweilen zu einer Entartung. Erst das Zurückdrängen kirchlicher Elemente durch die Formensprache der Renaissance lenkte die S. wieder in maßvollere dekorative Bahnen, woran die spanische und italienische Applikationsarbeit und die leichtere Goldstickerei mit Bedürfnissen für das Haus und die weltliche Tracht stark beteiligt waren. Leinenstickerei, Filet- und Kanevasstickerei nahmen seit dem 16. und 17. Jahrh. einen breiten Raum für den allgemeinen Gebrauch ein. Sticktücher und Musterbücher der Ornamentstecher (s. Sibmacher) sorgten für die Verbreitung guter Zeichnungen. Gewisse Techniken waren zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten, in Werkstätten und als Arbeiten der Hausindustrie bevorzugt. Vorbildlich in Technik und Farbengebung wurden für das Abendland stets die in Massen aus dem Orient kommenden Stickereien: weniger für die Musterung, die sich dort im ganzen mehr dem allgemeinen Prinzip morgenländischer Flächenteilung unverändert anschließt, während in Europa architektonische, malerische und plastische Motive für die Stilentwickelung in der S. maßgebend blieben. Eine Ausnahme hiervon machte China, das schon im 18. Jahrh. nicht nur einflußreich auf die Ausführung der europäischen Seidenstickereien im Plattstich (s. auch Knötchenstich) wirkte, sondern auch durch ihre Blumenmusterung gestickter Schals, Tapeten etc. besonders für Frankreich tonangebend ward, bis der hieraus sich entwickelnde übertriebene Naturalismus zu Anfang des 19. Jahrh. den gänzlichen Verfall des künstlerischen Wertes in der S. herbeiführte. Dem Geschmacke nachteilig wurde auch die zu dieser Zeit erfundene mechanische Musterung durch die Stickmaschine. Erst der erneuerten Pflege weiblicher Handarbeiten (s. d.) seit den 1860er Jahren ist die Wiederaufnahme alter Techniken und stilgerechter Muster zu danken. Vgl. Quentel, Musterbuch für Ornamente und Stickmuster (1527–29; neue Ausg., Leipz. 1882); Bock, Geschichte der liturgischen Gewänder des Mittelalters (Bonn 1858–71, 3 Bde.); Higgin, Handbook of embroidery (Lond. 1880); Wendler, Stickmuster nach Motiven aus dem 16. Jahrhundert in Farben gesetzt (Berl. 1881); Alford, Needlework as art (Lond. 1886); Dalmatow, Russische Stickmuster (Petersb. 1889); Stuhlmann, Stickmuster für Schule und Haus (Stuttg. 1890); Kick, Preisgekrönte Stickereiarbeiten (das. 1890); Karagadina, Album russischer Kreuzstichmuster (Odessa 1891); de Farcy, La broderie du XI. siècle jusqu'á nos jours (Par. 1892); Obermayer-Wallner, Die Technik der Kunststickerei (Wien 1896); Denk, Stickmustervorlagen (das. 1893 ff.); v. Saint-George, Kunst der Goldstickerei (das. 1896); Koch, Moderne S. (2. Aufl., Darmst. 1904); Day und Buckle, Art in needlework (Lond. 1900); Dreger, Entwickelung der Weberei und S. (Wien 1904); Braun, Winke für die Anfertigung und Verzierung der Paramente (Freiburg i. Br. 1904), auch Literatur bei Artikel »Handarbeiten, weibliche«.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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