Begnadigung

Begnadigung

Begnadigung, Beseitigung der strafrechtlichen Folgen begangener Straftaten durch Verfügung der Staatsgewalt. Begnadigungsrecht, die Befugnis zu solcher Verfügung, ein wichtiges Souveränitätsrecht. Zu unterscheiden ist zwischen der B. im engern Sinn (Einzelbegnadigung) und der sogen. Amnestie (Generalpardon), je nachdem es sich um die B. eines einzelnen Verbrechers oder um die B. einer ganzen Klasse von Verbrechern handelt. Die Einzelbegnadigung ist ebenso wie die Amnestie entweder eine B. nach oder vor gefälltem Strafurteil. Für den letztern Fall redet man von Abolition (Niederschlagung). Die B. als Verzicht auf die rechtskräftig erkannte Strafe (B. im engern Sinn), kann entweder in einem gänzlichen oder teilweisen Erlaß der Strafe bestehen oder tritt erst nach teilweiser Vollstreckung der Strafe ein, indem sie den Erlaß des Strafrestes herbeiführt oder die mit der Strafe verbundenen Rechtsnachteile aufhebt. In diesem letztern Sinne wird die B. als Rehabilitation bezeichnet, wenn sie die Wiederherstellung der dem Verbrecher entzogenen bürgerlichen Ehrenrechte enthält. Die B. rechtfertigt sich als »Sicherheitsventil des Rechts« (v. Ihering), um den starren Verallgemeinerungen des Gesetzes in einzelnen Fällen aus Billigkeitsgründen zugunsten des Verurteilten ihre Härte zu nehmen, einen Fehlgriff des Gerichts gutzumachen oder die Staatsklugheit zum Siege über das Recht zu führen. Die Abolition ist dagegen schon deshalb verwerflich, weil sie bereits einsetzt, wo ein Strafanspruch der Staatsgewalt noch gar nicht durch Urteil festgestellt ist und möglicherweise das Gericht überhaupt nicht verurteilen würde. Das Recht der B. steht dem Monarchen und in den Republiken den verfassungsmäßig damit ausgestatteten Organen zu. In leichtern Fällen ist die Ausübung dieses Rechtes von dem Souverän vielfach bestimmten Behörden, besonders dem Justizministerium, in Kriegszeiten einem kommandierenden General, einem Statthalter etc. übertragen. Im Deutschen Reich hat der Kaiser als solcher nur in denjenigen Strafsachen das Recht der B. (nicht auch der Abolition), die in erster Instanz vor das Reichsgericht gehören (Hochverrat und Landesverrat), sowie in Sachen, in denen der Konsul oder das Konsulargericht in erster Instanz erkannt hat. Auch übt der Kaiser für Elsaß-Lothringen und hinsichtlich der Strafurteile der Marinegerichte und der von den Reichsverwaltungsbehörden erlassenen Strafverfügungen das Recht der B. aus. Im übrigen steht das Begnadigungsrecht den Monarchen der deutschen Einzelstaaten und in den Freien Städten den Senaten zu. Todesurteile bedürfen nach der deutschen Strafprozeßordnung (§ 485) zu ihrer Vollstreckung zwar keiner Bestätigung mehr, doch sollen sie nicht eher vollstreckt werden, als bis die Entschließung des Trägers des Begnadigungsrechts ergangen ist, in dem vorliegenden Falle von dem Rechte der B. keinen Gebrauch zu machen. Analoge Bestimmungen gelten in Österreich; insbes. muß jedes Todesurteil dem Kaiser behufs etwaiger B. des Verurteilten vorgelegt werden. Die Abolition ist in den meisten deutschen Bundesstaaten verfassungsmäßig beschränkt oder beseitigt (vgl. z. B. Preußische Verfassung, Art. 49). Überdies ist in den Verfassungsurkunden der modernen konstitutionellen Monarchien eine Beschränkung des Begnadigungsrechts insofern anerkannt, als ein Minister oder ein sonstiger höherer verantwortlicher Staatsbeamter, der durch die Stände einer Verfassungsverletzung angeklagt worden ist, von der gegen ihn deshalb ausgesprochenen Strafe nicht oder doch nur auf Antrag der anklagenden Kammer selbst im Gnadenwege befreit werden kann, weil sonst ein Hauptmoment des konstitutionellen Systems, das Institut der Ministerverantwortlichkeit und Ministeranklage, hinfällig werden würde (vgl. die Verfassungsurkunden von Belgien, § 91; Preußen, § 49; Sachsen, § 150; Württemberg, § 205; bayrisches Gesetz, die Verantwortlichkeit der Minister betreffend, vom 4. Juni 1848, Art. 12, etc.; für Österreich § 29 des Gesetzes über die Verantwortlichkeit der Minister vom 25. Juli 1867). Das Recht der B. über verurteilte Militärpersonen steht dem Kriegsherrn zu; manche Landesherren haben es sich jedoch bei Abschluß der Militärverträge mit Preußen hinsichtlich ihrer Landeskinder vorbehalten. Da die militärgerichtlichen Urteile gemäß der Reichsmilitärstrafgerichtsordnung, § 450, nach Maßgabe der Bestätigungsorder (s. d.) zu vollstrecken sind, so weiß der Verurteilte, daß er auf den Erlaß der Strafe durch die Gnade des Kriegs-, bez. Landesherrn oder deren Milderung nicht mehr rechnen darf, wenn die Bestätigungsorder erteilt ist; denn diese enthält nicht nur die Bescheinigung der Rechtskraft des Urteils, sondern stellt sich auch dar als eine mit der Ausübung des Gnadenrechts zusammenhängende Genehmigung der Strafvollstreckung. Die Erteilung der Bestätigungsorder hat jedoch nicht die Bedeutung, daß nunmehr eine Milderung oder ein Erlaß der Strafe überhaupt nicht mehr eintreten könnte, obwohl durch ein eingelegtes Begnadigungsgesuch die Vollstreckung eines rechtskräftigen und bestätigten Strafurteils in der Regel nicht aufgehalten werden soll. Die privatrechtlichen Folgen eines Verbrechens, z. B. die Verpflichtung zum Schadenersatz, werden durch eine B. nicht verändert oder aufgehoben. Die viel erörterte Frage, ob ein Verurteilter auch gegen seinen Willen begnadigt werden könne, dürfte wohl zu bejahen sein, da die B. kein Akt der Willkür, sondern ein Akt der höhern Gerechtigkeit sein soll, dem sich der einzelne nicht beliebig entziehen kann. Vgl. außer den Lehrbüchern des Staatsrechts und des Strafrechts: Lueder, Das Souveränitätsrecht der B. (Leipz. 1860); Loeb, Das Begnadigungsrecht (Worms 1881); Elsas, Über das Begnadigungsrecht (Mannh. 1888); Heimberger, Das landesherrliche Abolitionsrecht (Leipz. 1901).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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