Physiokratisches System

Physiokratisches System

Physiokratisches System (Agrikultursystem), dasjenige volkswirtschaftliche Lehrgebäude, das den Grund und Boden und dessen Bewirtschaftung als Hauptquelle des Nationalreichtums betrachtet. Mitte des 18. Jahrh. von einem französischen Arzt, Fr. Quesnay (s. d.), und seiner Schule ausgebildet, ist es als eine Reaktion gegen die Auswüchse des Merkantilsystems (s. d.) und die traurigen Zustände des damaligen Staats- und gesellschaftlichen Lebens anzusehen. Schon früher zwar waren merkantilische Forderungen und Anschauungen bekämpft oder von gemäßigten Merkantilisten, wie Th. Mun, Bodinus, North. Child, Steuart, Locke, Petty, geläutert worden. Erfolgreicher jedoch war die Opposition der Physiokraten, die mit ihrem wissenschaftlichen Ernst und ihren humanitären, freisinnigen Bestrebungen in den gebildetern, sich nach Reformen sehnenden Kreisen und selbst bei dem aufgeklärten Despotismus (Katharina II.) großen Beifall fanden. Die Grundzüge seines Systems teilte Quesnay zuerst in seinen ökonomischen Tafeln (1756) mit, der Name Physiokratie (d.h. Herrschaft der Natur, vom griech. physis, Natur, und kratein, herrschen) wurde ihm später (1767) von Dupont de Nemours (s. Dupont 1) beigelegt, weil jenes System die Natur wieder in ihr Recht einsetzen und zur Herrschaft gelangen lassen wolle. Denn nach Quesnays Lehre bringt nur der Ackerbau neue Güter hervor, die Manufaktur bewirkt nur Trennungen und Verbindungen bereits vorhandener Stoffe. Auf diese Anschauung gründet sich die Einteilung der Gesellschaft in drei Klassen: 1) die produktive Klasse, der Nährstand, der die eigentlichen Landwirte umfaßt; 2) die Klasse der Grundeigentümer, die der Gesamtheit dadurch nützen, daß sie den Boden verbessern und als wohlhabend und »disponibel« dem Staat ihre Dienste leisten; 3) die sterile Klasse, die alle übrigen umfaßt. Produktiv wird die erste Klasse deswegen genannt, weil sie Überschüsse erzeuge. Die Bodenwirtschaft gewähre nach Deckung aller Aufwendungen mit Einschluß der Zinsen einen Reinertrag (produit net), der einen Zuwachs zum Volksvermögen bilde. Die empirisch beobachtete Tatsache, daß der Boden einen solchen Reinertrag abwerfe und infolgedessen auch ein Pachtschilling gezahlt werden könne, vermochten die Physiokraten freilich nicht genügend zu erklären. Bald wird das produit net als reines Geschenk bezeichnet, das der Boden seinem Bebauer darreiche, bald als Preis der Auslagen, die in Form von Gebäuden, Anpflanzungen, Entsumpfungen etc. gemacht worden sind.

Die Manufakturisten sollen zwar den Wert des von ihnen bearbeiteten Stoffes erhöhen, aber nur um so viel, als nötig sei, um zu ersetzen, was bei der Umformung an Bodenprodukten verzehrt wurde. Kapitalisierungen seien ihnen hiernach bei normalen Verhältnissen nur durch Privation (abkargen, entbehren) möglich, eine Ansicht, der die Idee vom natürlichen Preis (Kostenpreis) zugrunde liegt. Allerdings wird dabei betont, daß die Manufaktur teils dadurch nützlich sei, daß sie dem Landwirt Arbeiten abnehme, die dieser sonst auf Kosten des Bodenbaues verrichten müsse, teils dadurch, daß sie die Produkte der Landwirtschaft dauerhaft mache (Konservierung, Umformung, Herstellung neuer Werte bei der Verzehrung landwirtschaftlicher Produkte). Da nur der Boden einen Überschuß abwirft, so wird er auch alle Steuern zu tragen haben, und zwar würde die Grundsteuer als einzige Steuer (impôt unique) gleichmäßig die richtigen Quellen treffen und am wenigsten beschwerlich sein. Für die Landwirtschaft wird Beseitigung der Lasten und Beschränkungen verlangt, die damals sehr stark auf sie drückten; statt dessen soll die Regierung die produktiven Ausgaben und den Handel mit Bodenerzeugnissen begünstigen. Große Hoffnung setzten die Physiokraten auf den wohltätigen Einfluß der freien Konkurrenz. Bei dieser werde das Einzelinteresse mit dem allgemeinen verbündet sein, denn das vernünftige Interesse der Einzelnen stimme stets genau mit dem allgemeinen überein. Deswegen werden Privilegien und Monopole bekämpft, weil sie die Rente des Bodens und damit auch die Mittel für landwirtschaftliche Verbesserungen verkürzten, und es wird volle Freiheit für Produktion und Handel verlangt. »Laisser faire, laisser passer« soll darum der Wahlspruch Gournays gewesen sein; man solle nur den wirtschaftlichen Verkehr sich selbst überlassen, und es werde der beste, allen Interessen genügende wirtschaftliche Zustand erreicht.

Unter den Anhängern der Physiokratie sind hervorzuheben der ältere MirabeauPhilosophie rurale«), Dupont de Nemours, Mercier de la Rivière, der von Katharina II. nach Rußland berufen wurde, Gournay, der Begründer der gemäßigten Richtung der Handelsphysiokraten, die sich mehr von der einseitigen Überschätzung der Landwirtschaft frei machten, und endlich Turgot, der nicht allein literarisch (»Reflexions des richesses«), sondern auch praktisch für das physiokratische System wirkte. Als Generalkontrolleur der Finanzen beabsichtigte Turgot umfassende Reformen in echt physiokratischem Sinn durchzuführen, fand jedoch bei der feudalen privilegierten Gesellschaft einen unüberwindlichen Widerstand. Auch in Deutschland traten zahlreiche Jünger des physiokratischen Systems auf: Iselin, Schlettwein, Springer, Schmalz, Krug u.a. Der Markgraf Karl Friedrich von Baden versuchte dasselbe in einem sehr beschränkten Bezirk seines Landes (in den Dörfern Dittlingen, Bahlingen, Themingen) durchzuführen; doch wurde der Versuch wieder aufgegeben, als die Gemeinden darum einkamen, es möge die Freiheit der Hantierungen wieder aufgehoben werden.

Der Grundirrtum der Physiokratenbestand in ihrer Anschauung über den Begriff der Produktivität. Es war ihnen unbekannt, daß die Landwirtschaft ebensogut wie die Industrie durch Arbeit und Benutzung der Naturkräfte lediglich Orts- und chemische oder physikalische Formveränderungen bewirkt, und daß die Höhe des landwirtschaftlichen Reinertrags nicht allein von der Fruchtbarkeit des Bodens, sondern auch von Art und Umfang der Bewirtschaftung, von der Lage des Bodens, dem Stande der Industrie, Entwickelung des Verkehrswesens, überhaupt auch von allgemeinen sozialen Ursachen abhängig ist. Ausdehnung der Gewerbtätigkeit und des Handels, industrielle Verbesserungen, Erfindung landwirtschaftlicher Maschinen können die Bodenrente steigern, ohne daß diese auf ein Naturgeschenk oder die Grundkosten zurückgeführt werden kann. Infolge ihres Grundirrtums kamen sie zu der Forderung einer einseitigen Steuer und zur Bildung unzulässiger Klassenunterschiede. Nach ihrer Theorie müßten die Grundeigentümer als eine privilegierte Klasse erscheinen, die ernten, wo sie nicht gesät haben, während alle Leistungen der Industrie der Landwirtschaft zugute geschrieben werden und den Industriellen lediglich Deckung der Produktionskosten und ihres Unterhaltsbedarfs je nach ihrer Lage zugestanden wird. – Der Kampf für wirtschaftliche und Handelsfreiheit hatte zu einer Zeit seine volle Berechtigung, in der eine Menge verkehrter und einseitig drückender Schranken der Entwickelung von Wirtschaft und Kultur im Wege standen. Allerdings ging man später, zumal bei Bearbeitung und Verbreitung der Smithschen Nationalökonomie in der Verfolgung des Prinzips des laisser faire zu weit (Smithianismus). Anerkennung verdient der von den Physiokraten zuerst wissenschaftlich begründete Gedanke, daß die Steuer nur von Überschüssen über die Kosten zu nehmen sei, sowie der ethische Gehalt ihrer Bestrebungen und ihr Kampf gegen die zumal in den obern Kreisen herrschende Sittenlosigkeit des 18. Jahrh. Eine Sammlung physiokratischer Schriften gab Daire heraus (Par. 1846). Vgl. Kellner, Zur Geschichte des Physiokratismus (Götting. 1847); Guyot, Quesnay et la Physiocratie (Par. 1896); Oncken, Die Maxime des laisser faire et laisser passer (Bern 1886); Schweizer, Geschichte der Nationalökonomik in vier Monographien, 2. Teil (Ravensb. 1904); Rougon, Les Physiocrates et la réglementation du taux de l'intérêt (Par. 1906).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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